Kolonie Kanzleistrasse: «Vom Kapitalismus befreite Erde»

1930 baute die Allgemeine Baugenossenschaft Zürich (ABZ) die Kolonie Kanzleistrasse mit 156 Wohnungen. Obwohl die Siedlung im Inventar der schützenswerten Bauten enthalten ist, will die ABZ sie abreissen. Das ist besonders schade, weil diese Genossenschaftshäuser mit sehr schönen Fresken des Künstlers Wilhelm Hartung (1879 – 1957) geschmückt sind. Als Novum hatten die Wohnungen von Anfang an Bad, Zentralheizung und Warmwasser. Die Genossenschaft wollte die Häuser rot verputzen, um sie «von den spekulativ erbauten Zinspalästen abzugrenzen», was die Stadt verbot. Es ging damals um viel mehr als «nur» um bezahlbare Wohnungen: Die Genossenschaftswohnungen galten als «ein Stück neue Welt, vom Kapitalismus befreite Erde», wie die ABZ in einer Broschüre schrieb. Die Rhetorik erinnert an die heutigen autonomen Häuserbesetzer – die Wohnbaugenossenschaften äussern sich heute viel zahmer.

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Die Kolonie Kanzleistrasse ist Teil eines grossen Geländes zwischen Badener- und Hohlstrasse, das nach der Tieferlegung der Seebahn überbaut wurde. Praktisch das ganze Gelände wurde mit günstigen Wohnungen bebaut – anders als bei der aktuellen Überbauung des «Zürich-West» genannten Stadtteils, wo vor allem Luxuswohnungen entstehen. Die Stadt bebaute einen Teil selber (den Erismannhof), die anderen Grundstücke verkaufte sie verschiedenen Genossenschaften, darunter der ABZ. So entstand ein Quartier mit grosszügigen Wohnhäusern mit zum Teil riesigen unbebauten Innenhöfen, das einzigartig ist in Zürich. Im Neujahrsblatt 2013 schreibt der Zürcher Heimatschutz: «Hinter diesen Leistungen stand die Idee des Gemeindesozialismus und der Gemeinwirtschaft, wie sie die Politik der Stadtverwaltung im „Roten Zürich“ prägte.»

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Wilhelm Hartung malte rund 40 Bilder für die Kolonie Kanzleistrasse. Die meisten Bilder finden sich auf Erkern an der Seebahnstrasse und der Karl-Bürkli-Strasse. Die Szenen sind eher konventionell: sie zeigen Männer bei der Erwerbsarbeit und Frauen mit Kindern. An der Karl-Bürkli-Strasse malte Hartung exotische Tiere an die Fassade. Trotz der konventionellen Sujets weist die Gestaltung eine hohe Qualität auf. Die Figuren sind relativ stark abstrahiert. Hartung verwendete leuchtende Signalfarben (rot, blau). In einer Gruppe von drei sitzenden Frauen trägt die mittlere Frau ein weisses Kleid und die beiden anderen hat der Künstler mit roten Kleidern gemalt. Auch die Gesichter sind stark stilisiert, ähnlich wie sie Modigliani malte. Die Kunsthistorikerin Bernadette Fülscher schreibt im Neujahrsblatt des Heimatschutzes: «In der Wohnsiedlung Kanzleistrasse darf die positive Darstellung des Arbeiteralltags als gezielte Aufmunterung in einer sozial, politisch und wirtschaftlich unsicheren Zeit gesehen werden.»

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Wer der Seebahnstrasse entlang spaziert und die Bilder anschaut, sieht sofort: Dieser Gemäldezyklus ist ganz speziell in Zürich. Zwar sind auch andere Genossenschaftshäuser mit Fresken verziert. Aber Hartungs Bilder haben dank der starken Abstraktion eine spezielle Qualität. Bernadette Fülscher lobt: «Die Erkerbilder sind modern und im Vergleich zu anderen Zürcher Malereien der Zwischenkriegszeit einzigartig. Nirgendwo sonst wirken Hartungs Bilder derart reduziert und ästhetisiert.» Es wäre jammerschade, wenn diese Bilder zerstört würden.

Fotos: Andreas Gossweiler

Das Neujahrsblatt 2013 kann man beim Zürcher Heimatschutz bestellen. Spannende Lektüre, sehr zu empfehlen.

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