Steine nach Asien transportieren

«Absoluter Blödsinn» – «lächerlich» – «unglaublich dumm» – «purer Schwachsinn» – «nicht mehr normal»: Die Kommentarschreiber auf 20min.ch waren sich einig, als 20 Minuten berichtete, dass die Rigi-Bahnen in den nächsten zwei Jahren einen 10 Tonnen schweren Stein aus China auf dem Rigi aufstellen wollen und ein ebenso schweres Stück Rigi auf den chinesischen Berg Emei Shan transportieren wollen. Falls Sie es nicht wussten: der Emei Shan ist der «Partnerberg» der Rigi, wie man in Marketingsprache sagt. Die Tourismusorganisationen der beiden Berge haben gemeinsame Werbeaktivitäten beschlossen, und der Austausch von Personal und Felsbrocken gehört dazu. Die Rigibahnen hoffen, so mehr chinesische Touristen auf die Rigi zu locken. Und der Emei Shan soll in der Schweiz bekannter werden.

Einen Felsblock nach China transportieren: Der WWF hat laut 20min.ch nichts dagegen «angesichts der gigantischen Warenströme, die zwischen China und der Schweiz fliessen.» Ich habe auch nichts dagegen – ausser, dass die Idee nicht neu ist. Vor dreissig Jahren hatte die Künstlergruppe Minus Delta t die gleiche Idee.

Zwischen dem 1. und 5. April 1982 stand ein schwerer Lastwagen auf dem Platz vor dem Kunsthaus Zürich. Auf der Ladefläche lag ein sieben Tonnen schwerer Granitbrocken aus Wales. Minus Delta t transportierte den Stein von England nach Asien. Die Aktion hiess «Bangkok Project». Ziel des Transports war jedoch nicht Bangkok, sondern das Himalaya-Gebiet. Ich fand die Idee grossartig. Minus Delta t war eine Gruppe aus dem Umfeld und mit der Energie von Punk und der Neuen Deutschen Welle.

Zweimal die gleiche Aktion? Bei näherer Betrachtung zeigen sich grosse Unterschiede zwischen dem geplanten Steintransport der Rigi-Bahnen und dem «Bangkok-Project». Natürlich lebte auch die Aktion von Minus Delta t von der gewollten Provokation: Einen Stein nach Asien karren, für was soll das denn gut sein? Doch für Minus Delta T war der Stein «Projektionsfläche und Katalysator». Der Stein war weniger wichtig als die Aktivitäten drum herum. Die spektakuläre Aktion war nicht Selbstzweck wie bei den Rigi-Bahnen. Während dem (zufälligerweise?) neun Monate dauernden Transport führten Minus Delta t künstlerische Aktionen an den Stationen der Reise durch. Und sie gründeten ein «Archiv Europa», ein Kulturarchiv und «Schlüssel für Ost und West», an das jedermann eigene Beiträge liefern konnte zu Themen wie «privat und öffentlich», «europäische Mystik (wieso Leute arbeiten)», «Gleichgültigkeit (weit verbreitet in allen Bereichen)» und so weiter. Die Künstler erklärten die Idee wie folgt:

«Medien sind Informationen und Informationsträger; wie Katze und Floh: Die Katze – das Medium – wird wahrgenommen, jedoch der Floh – die Information – springt auf den Menschen über.»

Minus Delta t bezeichneten ihren Lastwagen als «bewegliche Staatsform» und sahen sich in der Tradition von Goethe und Marco Polo. Im Iran wurden die Künstler verhaftet, weil sie verdächtigt wurden, eine Bombe zu transportieren. In der Türkei galten sie als syrische Spione. In New Delhi deponierten sie den Stein im Garten der österreichischen Botschaft, weil sie nicht in China einreisen konnten. Ausgerechnet.

Aktie des Bangkok-Project von Minus Delta t

Über agossweiler

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