Wie sich der Tages-Anzeiger selbst kannibalisiert

Ich lese den Tages-Anzeiger seit über 40 Jahren, praktisch seit ich lesen kann. Deshalb ist meine Bereitschaft, diesem Blatt als Leser treu zu bleiben und das Abonnement zu erneuern, gross. Wenn ich jedoch einen grossen Teil der Zeitung vorher schon gratis im Internet gelesen habe, bleibt ein flaues Gefühl zurück. Heute erschien mir das Verhältnis zwischen den Artikeln, die ich schon vorher gesehen habe und solchen, die ich erstmals in der Printausgabe lesen konnte, besonders ungünstig. Also machte ich die Probe aufs Exempel. Die Zusammenstellung zeigt, dass die Mehrheit der Artikel im Netz gratis sichtbar ist – im Lokalteil sogar alle grossen Texte:

Titelseite Aufmacher zu Asylbewerber-Text, Obama und Trudie Götz – alle drei Artikel sind, wie wir sehen werden, gratis im Netz

Seite 3 Spaziergang mit Bundesrätin Sommaruga: gratis im Netz (als SDA-Artikel); Bericht über Gratis-Rechtshilfe für Asylbewerber: gratis im Netz

TAsommaruga

Seite 5 Artikel über Walliser Genozid-Leugner: gratis im Netz

Seite 6/7 Artikel über Obama und die Nachrichtendienste: gratis im Netz

Aufschlagseite Zürich & Region Replik von Trudie Götz zu Vorwürfen von Oprah Winfrey: gratis im Netz, schon vorher dort gelesen

TAoprah

Seite 15 Artikel «Die Abfallsammler von der Werdinsel»: gratis im Netz, schon vorher dort gelesen

TAabfall

Seite 17 Artikel «Vom Oktogon übers Pentagon zum Hypodrom»: gratis im Netz

Aufschlagseite Wirtschaft Interview mit Gastrounternehmer Michel Péclard: gratis im Netz, schon vorher dort gelesen

TApeclard

Seite 37 Artikel über den «nächsten Steve Jobs»: gratis im Netz

Fazit: Der Tages-Anzeiger hat seit einigen Monaten eine konvergente Grossredaktion, dennoch (oder deshalb?) ist heute ein grosser Teil der Printausgabe online gratis sichtbar. Dass es fürs Geschäft nicht gut ist, wenn man einen grossen Teil der Zeitung verschenkt, liegt auf der Hand. Dass sich beim Leser der Printausgabe Enttäuschung breitmacht, wenn er viele Texte der Printausgabe zuvor schon im Netz gelesen hat, liegt auch auf der Hand.

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4 Antworten zu Wie sich der Tages-Anzeiger selbst kannibalisiert

  1. Michael schreibt:

    Gleiches gilt zB. auch für die SZ. Deshalb hab ich sie jetzt auch nicht mehr abonniert.

  2. Gion schreibt:

    Aber sind es denn genau die gleichen Artikel? Ich finde, tagi.ch ist mehr eine Boulevardzeitung und bin darum froh, ab und an auch auf die Printausgabe zurückgreifen zu können.

  3. Thomas schreibt:

    Das gleiche Gefühl habe ich seit kurzem bei der Stuttgarter Zeitung. Erschwerend kommt hinzu, dass ich den Welt / Deutschland Teil bei Google News lesen kann, ohne mich auf eine Zeitung festlegen zu müssen. Es fehlen die individuell geschriebenen Artikel zu «Allerweltsthemen». Das schließt sich in meinen Augen nicht aus.

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