
Diesen Sommer hat das kalifornische Label Omnivore das Album «I Mean To Shine» von Linda Hoover herausgebracht. Die amerikanische Sängerin ist weitgehend unbekannt, aber die Platte zeigt: Sie hätte eine der besten Singer-Songwriterinnen werden können. Hätte, Fahrradkette. Wenn das Wörtchen Wenn nicht wär.
Der Reihe nach. Im Sommer 1970 nahm Linda Hoover in einem Studio in Manhattan ein Dutzend Songs auf. Zu ihrer Begleitband gehörten einige Musiker, die bald darauf weltberühmt werden sollten: Der Bassist Walter Becker, der Pianist Donald Fagen und die Gitarristen Jeff «Skunk» Baxter und Denny Dias. Fünf Songs stammten aus der Feder von Becker und Fagen. Zwei Jahre später brachten sie ihre Musik unter dem Namen Steely Dan unter die Leute.
Linda Hoovers Stimme lag in einem ähnlichen Bereich wie andere Folkrock-Sängerinnen der Epoche, sagen wir mal Joni Mitchell. Sie schrieb auch selbst Songs, drei davon nahm sie für ihr Debütalbum auf.
Was dann passierte, war eine grosse Tragödie. Als schon der Entwurf für den Plattenumschlag vorlag, merkte Morris Levy, der Boss der Plattenfirma Roulette Records, die das Album herausbringen wollte, dass die Rechte für die Fagen/Becker-Songs, die der gewiefte Steely-Dan-Manager Gary Katz ihm versprochen hatte, bereits dem damaligen Fagen/Becker-Manager Kenny Vance gehörten. Dasselbe galt natürlich sinngemäss für die anderen Coverversionen, die für das Album aufgenommen wurden (mehr dazu später). Morris Levy war furios und beschloss kurzerhand, das Album zu kübeln. Damit war die ganze Arbeit der genialen Studiocracks für die Katz‘ (pun not intended). Linda Hoovers Musikkarriere, die so hoffnungsvoll begonnen hatte, war schlagartig beendet. Hoover war verständlicherweise bodenlos enttäuscht, war zudem pleite und zog wieder zu ihren Eltern und gründete dann eine Familie. Niemand glaubte ihr, wenn sie erzählte, dass sie mit Steely Dan im Studio war.
Fast forward zum Sommer 2022: Morris Levys Wut ist inzwischen verraucht. Und Levy oder wer immer heute die Rechte für die Aufnahmen besitzt gab grünes Licht für die Veröffentlichung von Linda Hoovers Debütalbum. Die heute 71-jährige Sängern hat jetzt verständlicherweise grosse Freude. «Never give up» sei ihr Motto, sagte sie dem «Guardian».
Die erste Seite von «I Mean To Shine» besteht aus fünf Becker/Fagen-Songs. Sie zeigen noch nicht den Jazz-Einfluss der Steely-Dan-Hits, sondern sind grundsolide Folk-Rock-Kompositionen mit eindringlichen Melodien und prägnanten Titeln wie «Turn My Friend Away» oder «Roll Back the Meaning». Der Titelsong wurde mit einem Bläsersatz angereichert.
Besonderen Hörspass machen die makellos fliessenden und perlenden Licks und Solos des grossartigen Leadgitarristen, vermutlich Jeff «Skunk» Baxter. Was das Album auch auszeichnet, ist die virtuose Mellotron-Begleitung auf mehreren Songs. Vermutlich hat Donald Fagen das Mellotron bedient. Dieses kuriose Instrument, eine Art Orgel, die auf Tastendruck kleine Tonbandschlaufen aktiviert, eine Schlaufe für jede Tonhöhe, ist eine Art «Leitfossil» für die späten Sechziger Jahre, beginnend mit Songs wie «Strawberry Fields Forever». Vermutlich hat Donald Fagen später nie mehr ein Mellotron angerührt. Aber auf Linda Hoovers Album verleiht das Mellotron mit Flötensound dem Album die träumerische Stimmung, die man von vielen psychedelischen LP’s kennt.
Die zweite Seite des Albums beginnt mit einer sehr geschmackvoll ausgewählten Coverversion: «In A Station» vom Debütalbum von The Band. Das ist eine unglaubliche Komposition, die Akkordfolgen sind total originell, und Songschreiber Richard Manuel erreichte später diese Komplexität nie mehr. Die Steely-Dan-Musiker haben den Song relativ ungekünstelt interpretiert, statt des Clavichords, welches die Aufnahme von The Band auszeichnete, summt das Mellotron leise im Hintergrund. Die Coverversion des Crosby-Stills-Nash-and-Young-Depressionssongs «4+20» ist spektakulär aufgepimpt, sie glänzt mit einem treibenden Gitarrenriff, einer fetten Basslinie, gekonnten Mellotron- und Bläserbegleitung.
Kurz, dieses Album ist ein verlorenes Meisterwerk. Es ist ein grosses Glück, dass es jetzt nach all den Jahrzehnten endlich erscheinen konnte.
Linda Hoover: «I Mean To Shine», Omnivore Recordings 2022