Jeder Schweizer trinkt pro Jahr siebeneinhalb Liter Alkohol. Ob das gesund ist, darüber streiten die Fachleute seit vielen Jahren. Der kanadische Philosoph Edward Slingerland versucht einen neuen Blick auf den Alkoholkonsum. Für ihn ist klar: Alkohol spielte eine zentrale Rolle bei der Entwicklung unserer Gesellschaft. «We could not have civilisation without intoxication», schreibt er in seinem neuen, sehr lesenswerten Buch «Drunk».
Slingerland hat erstaunliche Fakten gesammelt. Alte Mythen setzten das Trinken mit der Menschwerdung gleich. Warum? «We get drunk because we are a weird species, the awkward losers of the animal world, and need all the help we can get.» Alkohol macht uns offen für Zusammenarbeit, erhöht die Kreativität, macht uns fröhlich und entspannt. Die Menschen brauchten einfach einen Stoff, der den übermächtigen präfrontalen Kortex ausser Gefecht setzt, schreibt Slingerland. Alkohol erwies sich als der beste Kandidat: einfach herstellbar, problemlos haltbar und mit weniger Nebenwirkungen als andere Rauschmittel. Und alkoholische Getränke schmecken erst noch gut.
Edward Slingerland hat sich nicht nur mit den chemischen und historischen Faktoren des Alkoholkonsums befasst, sondern auch mit den wirtschaftlichen. Der Wunsch, sich zu betrinken, habe erst die moderne Landwirtschaft hervorgebracht. Alkohol sei kein Abfallprodukt des Ackerbaus, sondern habe die Menschen dazu motiviert, das Nomadenleben aufzugeben und Früchte und Getreide anzubauen, die sie fermentieren konnten.
Der nüchterne, berechnende Geist ist laut Slingerland ein Hindernis für soziales Vertrauen. Deshalb gehört Alkohol zu jedem Geschäftsabschluss und zu jedem Mitarbeiterfest. Das wissen alle. Das besondere Verdienst von Edward Slingerlands beeindruckender Forschung und die zentrale These seines Buches ist die Erkenntnis, dass Alkohol den Aufbau der grossen Zivilisationen erst möglich gemacht habe. Dank Alkohol könnten die Menschen besser zusammenarbeiten, was ein grosser Vorteil gewesen sei für Gesellschaften, die dem Alkoholkonsum frönten. Warum? Alkohol fördert laut Slingerland die Kreativität, verringert Stress und erleichert soziale Kontakte, Vertrauen und die Gruppenidentität. Nichts habe hingegen die Kreativität so stark gebremst wie die Alkoholprohibition.
Edward Slingerland, «Drunk. How we sipped, danced, and stumbled our way to Civilization. Little, Brown Spark, 2021.