Ein Hauch von Orient im Serrière-Tal

Westlich von Neuchâtel tritt ein kleiner Fluss aus dem Boden, die Serrière. Nach nur 665 Metern fliesst die Serrière in den See. Das genügte, um die Gründung zahlreicher Industriebetriebe zu ermöglichen. Vor 200 Jahren trieb die Serrière nicht weniger als 38 Wasserräder an. In der engen Serrière-Schlucht siedelten sich Schmieden, Mühlen, Sägereien und eine Papierfabrik an – und auch ein weltberühmtes Unternehmen: die Schokoladefabrik Suchard.

Der Gründer der Schokloladefabrik, Philippe Suchard, war ein grosser Fan der orientalischen Kultur. Er reiste nach Algerien, Ägypten, in die Türkei, nach Palästina, in den Libanon und nach Syrien. Nachdem er von einer Nahost-Reise nach Neuchâtel zurückgekehrt war, hatte er die Idee, seine ansonsten eher schmucklose Villa an der Rue Guillaume Farel in Serrières mit einer Kuppel und einem goldglänzenden Minarett samt Mondsichel aufzupeppen. Der Neuenburger Architekt Louis-Daniel Perrier lieferte den Entwurf, und zwei Berner Maler schmückten das Innere im orientalischen Stil aus. Der Bau des Minaretts löste damals keine grossen Diskussionen aus. Das wäre heute bestimmt anders – der Bau von Minaretten ist in der Schweiz seit 2009 verboten. Philippe Suchard würde wohl in seinem Grab rotieren, wenn er das wüsste. Sein Minarett hat keine religiöse Bedeutung, kein Imam hat in Serrières gepredigt, und Philippe Suchard ist nie zum Islam übergetreten.

Auch der Eingang der Villa ist mit einem prächtigen, bunten Glasfenster in Hufeisenform geschmückt. Sarah Keller, Spezialistin für Glasmalerei, vermutet, dass dieses Fenster nicht gleichzeitig mit dem Minarett entstand, sondern erst im Jahr 1891. Möglicherweise wurde es in Auftrag gegeben von Carl Russ, dem Nachfolger von Philippe Suchard. Auch Russ war in Algerien, Tunesien und Ägypten.

Das Suchard-Minarett ist in der Schweiz, wenn nicht sogar in ganz Europa, ein Unikum. Auch wenn es in der Schweiz zahlreiche andere Bauten und Inneneinrichtungen im orientalischen Stil gibt, zum Beispiel die Synagoge in Zürich oder der «Selamlik» im Schloss Oberhofen am Thunersee. Laut der Berner Kunsthistorikerin Nadia Radwan wollte Suchard kein real existierendes Minarett nachbauen, das er im Nahen Osten gesehen hatte. Vielmehr wollte er ein Traumgebilde à la «Tausendundeine Nacht» errichten. Das schreibt Radwan im Buch «Der Orient in der Schweiz». Laut Radwan erinnert das Suchard-Minarett an Bauten von Weltausstellungen des 19. Jahrhunderts in London und Paris, bei denen die Suchard-Schokoladefabrik mitmachte, oder an englische «follies» im indischen Stil.

Seit der Barockzeit waren Gebäude im orientalischen Stil in Europa beliebt. Auch im Park des Schlosses Schwetzingen im badischen Rheintal steht eine «Moschee». Und die Zigarettenfabrik «Yenidze» in Dresden wurde wegen ihres als Minarett dekorierten Hochkamins und ihrer riesigen Kuppel als «Tabakmoschee» bezeichnet. Solche Bauten waren beliebt, weil sie die Fantasie der Betrachter an weit entfernte, unbekannte Welten erinnerten.

Nicht weit vom Minarett, an der Rue des Usines, liess Philippe Suchard 1974 vom Architekten Louis-Daniel Perrier einen Brunnen im orientalischen Stil bauen. Laut Nadia Radvan erinnert die Dekoration an die Alhambra in Granada. Suchard veröffentlichte auch passende Werbung für seine Produkte mit Kamelen und Wüsten-Ambiente.

Fotos: Andreas Gossweiler

Francine Giese, Leila el-Wakil, Ariane Varela Braga (Hrsg.): «Der Orient in der Schweiz», Verlag De Gruyter 2019

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