Seit den 1960er Jahren gibt es in der Türkei eine enorm vielfältige und reichhaltige Popmusik-Szene. Leider wird sie hierzulande viel zu wenig wahrgenommen. Das dürfte vor allem daran liegen, dass die Lieder grundsätzlich in türkischer Sprache aufgenommen wurden. Um die sözler (lyrics) zu verstehen, müsste man im Prinzip türkisch lernen. Es gibt nur wenige türkische Popsongs in englischer Sprache. Eines davon ist «Oh Lady Mary», im Jahr 1967 ein Hit für den holländischen Sänger David Alexandre Winter. In der Türkei wurde das Lied unter dem Titel «Samanyolu» vom Sänger Berkant bekannt.
Wie überall begannen in den 1950er Jahren türkische Musiker, US-amerikanische Hits nachzuspielen. In den 1960er Jahren kamen sie auf die Idee, westliche Rocksounds mit türkischer Volksmusik zu kombinieren. Sie gingen ähnlich vor wie amerikanische Bands, die sich auf die Tradition des Blues, des Country und der Folksongs bezogen und damit etwas Neues schufen und für die Jungen zugänglich machten. Statt Blues-Lieder von Muddy Waters oder Bessie Smith waren die türküs (Folksongs) von Sängern wie Neşet Ertaş oder Âşık Veysel der Bezugspunkt für die junge Szene.
Eine der berühmtesten Sängerinnen ist Selda Bağcan (ausgesprochen bah-tschan), geboren 1948 in der westtürkischen Stadt Muğla (muh-la) und aufgewachsen in Ankara. Falls ein Vergleich hilft: Selda ist so etwas wie die türkische Joan Baez, jedenfalls, was ihr politisches Engagement betrifft. Leider ist Selda in der Schweiz genauso wenig bekannt wie andere türkische Musiker/innen wie Cem Karaca, Nükhet Duru oder Erkin Koray. Aber populäre US-Hip-Hop-Musiker wie Mos Def oder Dr. Dre haben Seldas Sounds gesampelt und rund um die Welt verbreitet.
Wie andere Musiker/innen ihrer Generation hat Selda Bağcan traditionelle türküs mit ihrer starken, gefühlvollen Stimme neu intepretiert, frisch arrangiert und für eine neue Generation zugänglich gemacht. Sie hat aber immer auch Songs mit explizit politischen Inhalten geschrieben. Sie setzte sich für die Armen und für die Unterprivilegierten ein. Das machte sie populär bei den Linken, und es jagte der Militärdiktatur Angst ein. Und so wanderte Selda mehrmals in den Knast wegen ihres politischen Engagements, und das Regime nahm ihr ihren Pass weg. Andere Musiker wie Cem Karaca flohen nach Deutschland. Selda war die einzige Musikerin, die ins Gefängnis gesteckt wurde. Dennoch liess sie sich nie vom Regime einschüchtern, und sie schrieb weiter politische Songs. Soviel Mut kann man nur bewundern. Nachdem sie freigelassen wurde, gründete sie ihr eigenes Plattenlabel. In diesem Zusammenhang kann man auch festhalten, dass das Frauenstimmrecht in der Türkei 40 Jahre vor der Schweiz eingeführt wurde.
In ihrem Song «Yaz Gazeteci Yaz» (übersetzt: «Schreib, Jounalist, schreib») von ihrer zweiten LP (1976) setzte sich Selda Bağcan für die verarmte Landbevölkerung ein. Das poppige Arrangement des Songs ist auch für westliche Ohren zugänglich. Der Song beginnt mit durch ein wah-wah gejagten Gitarrenakkorden, Bass und Drums legen einen funkigen Rhytmus. Im Text ruft Selda die türkischen Journalisten auf, nicht nur über die urbane Elite in Istanbul zu schreiben, sondern auch über das Elend auf dem Land zu berichten: «Journalist, komm in unser Dorf und schreib über uns / Schreib nicht über lackierte Fingernägel in der Stadt / Sondern über die schwieligen Finger in unserem Dorf».
Hier der gesamte Text und als Internet-Première die deutsche Übersetzung:
Yaz Gazeteci Yaz
Aman gazeteci gel bizim köye bizim halları da yaz
Şehirde ojeli parmakları yazma
Bir de bizim köyde nasırlanmış elleri de
Yaz yaz gazeteci yaz,
Yaz yaz efendi yaz
Bankada parası olann kulları yazma
Onlara aldanıp yolundan azma
Şehirden asfalt geçen yolları yazma
Bir de bizim köyden eşşek geçmeyen yolları
Yaz yaz gazeteci yaz…
Şöhretten bunalmış dilleri yazma
Kendi bahçendeki gülleri yazma
Haksız yere genç öldüren elleri yazma
Doğuda doktorsuz ölen kulları
Yaz yaz gazeteci yaz…
Almanya’da çalışan elleri yazma
Libya’ya gidecek olanlara şaşma
Evi barkı yıkılanları yazma
Bir de türkiye’de dul kalan kulları da
Yaz yaz gazeteci yaz…
Schreib, Journalist, schreib
Journalist, komm in unser Dorf und schreib über uns
Schreib nicht über lackierte Fingernägel in der Stadt
Sondern über die schwieligen Finger in unserem Dorf
Schreib, Journalist, schreib…
Schreib nicht über das Geld in den Banken und seine Diener
Lass dich nicht von deinem Weg abbringen
Schreib nicht über die Asphaltstrassen in der Stadt
Sondern über die Wege, auf denen nicht mal Esel gehen können
Schreib, Journalist, schreib…
Schreib nicht in der erstickenden Sprache des Ruhms
Schreib nicht über die Rosen in deinem Garten
Schreib nicht über die Hände, die junge Menschen umbringen
Schreib über die Knechte im Osten, die ohne Doktor sterben
Schreib, Journalist, schreib…
Schreib nicht über die arbeitenden Hände in Deutschland
Sei nicht erstaunt über die, die nach Libyen gehen
Schreib nicht über Menschen, deren Haus zerstört wurde
Sondern über die verwitweten Knechte in der Türkei
Schreib, Journalist, schreib…
Übersetzung: Andreas Gossweiler