Nostalgie in der Popmusik um 1970

Die Moderne sei der «ideale Humus für nostalgische Gefühle», schreibt die Literaturwissenschaftlerin Susanne Scharnowski in ihrem spannenden Buch «Heimat – Geschichte eines Missverständnisses». Der Grund: «Je schneller sich der Alltag und die Gesellschaft wandeln, umso mehr stellen sich Gefühle der Entfremdung ein.» Ins Rollen kam die Nostalgiewelle zu Beginn der 1970er Jahre. Die Kinder des Wirtschaftswunders, aufgewachsen mit Industriefood wie Fischstäbchen und Dosenravioli und berauscht mit synthetischen Drogen, entdeckten plötzlich den Reiz des einfachen, spartanischen Lebens.

Dieser Paradigmenwechsel war auch in der Popmusik-Szene sichtbar. Auf den Psychedelic Rock mit grellen Soundeffekten folgte die Hinwendung zum Country-Rock und zum Oldtime-Jazz. Man kann das auf verschiedene Weise interpretieren – als reaktionäre Verspiesserung, aber auch als «Versuch, die Vergangenheit für die Gegenwart nutzbar zu machen», als «schöpferische Aneignung» und «Identitätsgewinn». So zitiert Susanne Scharnowski die Anthropologin Ina-Maria Greverus. Nachfolgend zeigt SILVER TRAIN BLOG einige besonders prägnante Beispiele der Nostalgie in der Popmusik um 1970.

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Harpers Bizarre: «Anything Goes» (Warner Brothers Records 1967)
Auch auf ihrer zweiten LP unternahm die kalifornische Gruppe Harpers Bizarre einen Ausflug in die musikalische Vergangenheit. Sie spielten Klassiker wie «Anything Goes» des Jazzkomponisten Cole Porter ein, collagiert mit  Sound-Schnipseln aus dem Archiv. Aber Achtung, das kalifornische Quintett hatte viel mehr im Sinn, als nur die Musikgeschichte zu kopieren. Die Arrangements sind komplex und flirrend. Zwischen die Klassiker sind zynische Songs von Randy Newman eingebaut, und der letzte Song ist «High Coin», eine Subkultur-Hymne des genial-avantgardistischen Musikers Van Dyke Parks. Die Covergestaltung passt zur nostalgischen Musik: Die Gruppe posiert wie auf einem Familienfoto des 19. Jahrhunderts, schick herausgeputzt und mit starrem Blick.

IMG_3872.jpgCrosby, Stills, Nash & Young: «Déjà-vu» (Atlantic Records 1970)
Auf dem Umschlag ihrer zweiten LP posierte die kalifornische Supergruppe im Stil von Wildwest-Helden à la Buffalo Bill. Im zweiten Song wimmert eine Steelguitar und verbreitet eine heimelige Country-Stimmung. Gespielt wurde die Steelguitar nicht von einem ländlichen Musiker, sondern von Jerry Garcia, dem Mastermind der Hippieband Grateful Dead. Zeichen, die tief in die kulturelle Vergangenheit der USA weisen. Doch die Zeitschrift „Rolling Stone“ ätzte, diese Wurzeln seien bei näherer Betrachtung «fest verankert im urbanen, kommerziellen Asphalt.»

IMG_3876.jpgGene Clark: «No Other» (Asylum Records 1974)
Nichts an der Musik dieses hervorragenden Albums ist nostalgisch. Doch die Gestaltung der Albumhülle verweist direkt in die Vergangenheit: Die Vorderseite besteht aus einer Collage von Fotos und Illustrationen aus den Vorkriegsjahren. Bilder von Greta Garbo als Sphinx, eines alten Buick, eines Strumpfgürtels sind gekonnt verwebt mit dem verschörkelten Schriftzug. Es half nichts, das Album war ein kommerzieller Flop. Doch heute gilt es als Kultplatte. Eine amerikanische Band führte die Songs 40 Jahre nach dem Erscheinen des Albums Ton für Ton live auf – auch eine Form der nostalgischen Rückbesinnung. Und noch ein spannender Rückbezug: Es heisst, Greta Garbo habe eine Kopie der LP besessen. Ob es ihr gefallen hat, ist nicht bekannt.

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The New Vaudeville Band: «Winchester Cathedral» (Fontana Records 1966)
Wenn Engländer sich die musikalische Vergangenheit aneignen wollten, war der Rückgriff auf die Tanzmusik der 1930er Jahre naheliegend. Der Sänger namens Tristram, Seventh Earl of Cricklewood sang gefühlvoll durch ein Megafon, begleitet von einer kräftigen Bläsergruppe. Der Backgroundchor antwortete mit einem ebenso kräftigen «Bo-do-dee-oh-do». Das war alles sehr ironisch und very english.

IMG_3891.jpgThe Nitty Gritty Dirt Band (Liberty Records 1967)
Die Liner Notes bestätigen Susanne Scharnowskis These: «If today’s psychedelic and electronic music mirrors the noises, troubles, tension and confusion of the modern world, then the happy, euphoric, vital music of the Nitty Gritty Dirt Band lets one settle back and joyously recall the carefree, happy-go-lucky, rapturous world of 1920.» Diese kalifornische Gruppe spezialisierte sich von Anfang an auf  die Wiederbelebung der musikalischen Tradition. Statt elektrischen Gitarren zupften sie Banjo und Mandoline, statt aufs Schlagzeug hämmerte der Drummer auf sein Waschbrett. Und sie stürzten sich in Anzüge, die «appear to have belonged to Chicago gangsters and Bloomsbury dandies», wie die Liner Notes berichteten. Doch die Nitty Gritty Dirt Band hatte auch ein Standbein in der Gegenwart: Zwischen die alten Gassenhauer wie «I Wish I Could Shimmy Like My Sister Kate» streuten sie neue Folkrock-Songs wie «Buy For Me The Rain» von Jackson Browne und anderen Zeitgenossen.

Weitere Beispiele: The Byrds: «Sweetheart of the Rodeo» (Columbia Records 1968); Procol Harum: «Grand Hotel» (Chrysalis Records 1973); Grateful Dead: «Workingman’s Dead» (Warner Brothers 1970); Dan Hicks & His Hot Licks: «Original Recordings» (Epic Records 1973); Spanky And Our Gang: «Live» (Mercury Records 1970); Delaney & Bonnie: «Accept No Substitute» (Elektra Records 1969)…

Susanne Scharnowski: «Heimat – Geschichte eines Missverständnisses», wbg Academic 2019

 

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