Hat Twitter wirklich gewonnen?

Am letzten Abstimmungssonntag hätten die sozialen Medien gewonnen, frohlocken Internetbegeisterte. Sie zählten Tweets, riefen Rekorde aus. Doch kann man mit Twitter und Facebook wirklich eine Abstimmung gewinnen? Die kausale Beziehung zwischen der Anzahl Tweets und dem Abstimmungsresultat wurde bisher nicht bewiesen.

Die amerikanische Psychologin Sherry Turkle hat einen nüchterneren Blick. Sie weist darauf hin, dass Social-Media-Benützer vor allem Inhalte verbreiten, die ihre Follower hören möchten. Das heisst mit anderen Worten: Wer auf Twitter und Facebook predigt, erreicht vorwiegend Leute in seiner persönlichen Filterblase, die die gleiche Meinung haben und deshalb nicht mehr bekehrt werden können. Vergebene Liebesmüh. Der Schuss kann auch hinten raus gehen: Der Berner Blogger JacoBlök fühlte sich durch die «spam-artige Verbreitung» belästigt und reagierte darauf mit einem Anflug von Politikverdruss.

In ihrem neuen Buch «Reclaiming Conversation» erinnert Turkle an die «Stop Kony»-Kampagne, die 2012 grosse Wellen warf im Internet. 91 Millionen Views verbuchte das Video, mit dem Aktivisten auf den afrikanischen Warlord Joseph Kony aufmerksam machte. Doch das Fazit der Kampagne ist wenig begeisternd. Sherry Turkle zitiert eine amerikanische Beobachterin:

«You go on a website, you send in your money – that satisfies your requirement for being in the conversation. You show solidarity with a movement by going online, and then, that’s it.»

Auf Twitter gabs den Hashtag #StopKony. Er wurde weit verbreitet. Aber Sherry Turkle erinnert daran, dass Web-Aktivismus sich darin erschöpft, ein Video anzugucken oder einen Text zu «liken». Politische Arbeit besteht hingegen darin, einen Konsens zu erkämpfen, Ziele zu definieren, strategisch zu denken. Das geht nicht mit einem simplen Knopfdruck am Computer oder Smartphone.

Die «Stop Kony»-Kampagne zeigt dies nur zu deutlich: Joseph Kony ist immer noch aktiv – seine Gegner hingegen haben ihre Aktivitäten längst eingestellt.

Sherry Turkle: «Reclaiming Conversation», Penguin Press 2015

Über agossweiler

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