«Purity» ist kein Internetroman. Grosse Teile des Buches beschreiben das mühselige bis katastrophale Beziehungsleben von amerikanischen Paaren und Singles. Alle haben aber auf die eine oder andere Art etwas zu tun mit einem Internet-Aktivisten namens Andreas Wolf, der ähnlich wie Julian Assange ein Leaking-Projekt betreibt. Jonathan Franzens Kunstgriff besteht darin, dass Wolf in der DDR aufgewachsen ist.
Das erlaubt dem Autor, Parallelen zwischen dem sozialistischen Regime und dem Internet zu ziehen: «If you substituted networks for socialism, you got the Internet.» Wie ein totalitäres Regime definiere das Internet alle Aspekte unseres Lebens. Man könne mitmachen oder dagegen sein, aber niemals unabhängig davon leben.
Genüsslich mokiert sich Franzen über die «neuen Apparatschiks», die bei TED-Talks und in Büchern ihren «verlogenen Sirup» von sich geben, der Andreas Wolf sehr an die DDR erinnere. Die Privilegien, die man sich in der DDR mit opportunistischem Verhalten ergattern konnte – ein Telefon oder eine Reiseerlaubnis – seien nicht schäbiger gewesen als die Belohnungen, die das Internet zu bieten hat wie viele Twitter-Follower oder Facebook-Freunde.
Gekonnt zieht Jonathan Franzen Parallelen zwischen der DDR-Rhetorik vom «Sieg über den Klassenfeind» und dem Diskurs der Internet-Gläubigen, die von «disruptiven neuen Technologien» schwärmen. Sogar die «buzzwords» seien dieselben: Kollektiv, kollaborativ. Das «neue Politbüro» stelle sich als Feind der Eliten und als Freund der Massen dar, ganz wie das alte Politbüro – nur herrsche im Internet noch mehr Angst als in der DDR – nämlich die Angst, unpopulär und uncool zu erscheinen, oder noch schlimmer: in Vergessenheit zu geraten: «Kill or be killed, eat or be eaten». In beiden Fällen sei die Angst vollkommen berechtigt.
Geschickt schlägt Franzen den Bogen von der durch die Guillotine symbolisierten jakobinischen «terreur» zum «wissenschaftlichen Sozialismus» und weiter zu den «terrors of technocracy», welche die Menschheit von ihrer Menschlichkeit befreien möchten.
Mit diesem sprachlichen Furor übertrifft Jonathan Franzen Internetkritiker wie Jaron Lanier oder Evgeny Morozov. Weil der Furor erst auf Seite 447 beginnt, haben es allerdings noch nicht allzu viele Leute gemerkt.
Jonathan Franzen: «Purity», Farrar Straus and Giroux 2015