Im letzten Kapitel seines neuen Buches «Digital Junkies» schreibt der deutsche Pychologe Bert te Wildt: «Netzjünger reagieren bisweilen ausserordentlich empfindlich auf Kritik. Sie verteidigen dann den unbedingten Glauben daran, dass im Internet die Zukunft des Menschen liege.» In letzter Konsequenz verbinde sich damit die Hoffnung, so te Wildt, dass im Cyberspace vielleicht sogar ein ewiges Leben auf uns warte: «Dieser Irrglaube lässt den Kult, der um das Internet gemacht wird, manchmal wie eine Ersatzreligion oder eine Sekte erscheinen.» Alle, die sich im Internet bewegen, machen bald Bekanntschaft mit solchen Netzjüngern. Te Wildt hat sich überlegt, was an den Heilsversprechen des Internets dran ist:
Interaktivität: Der Psychologe diagnostiziert «viel eher eine Pseudoaktivität», wenn wir «wie hypnotisierte Kaninchen immer mehr Zeit vor unseren Bildschirmmedien verbringen und uns dabei immer weniger (körperlich) bewegen.»
Selbstverwirklichung: Hundertfach verbreitete Botschaften wie «Sitze gerade im Zug und langweile mich» sorgen dafür, «dass jeder die ersehnte Bestätigung bekommt», haben aber nichts mit erfüllenden persönlichen Beziehungen zu tun, denn: «Es gibt einen Unterschied zwischen Selbstverwirklichung und Selbstvermarktung», schreibt te Wildt. Im Zuge der «digitalen Selbstdarstellungsexzesse» machen wir vor allem die Aussenwirkung zum Massstab. «Mit den sozialen Netzwerken halten wir einander am Ende vielleicht sogar eher auf Abstand», warnt der Psychologe, «während wir uns in dem oberflächlichen Glauben wiegen, dass wir einander ständig ganz nah seien.»
Schwarmintelligenz: Im Netz erhalte «nicht notwendigerweise das Kluge, sondern das gefühlsmässig Aufgeladene die meiste Aufmerksamkeit.» Shitstorms können für einzelne schreckliche Folgen haben, mit Denunziation und Lynchjustiz können Leben zerstört werden. Es sei «ebenso naiv wie gefährlich», dem Internet eine «ureigene Intelligenz zuzuschreiben.»
Demokratisierung: Vom «arabischen Frühling», der angeblich vor allem dank Twitter zustande gekommen sein soll, ist nicht viel übrig geblieben. Heute bedienen sich auch Diktatoren der digitalen Medien.
Transparenz: Sie hat laut te Wildt zwei Seiten. Datenkraken wie Google, Facebook und Amazon spionieren uns täglich aus. Politiker müssen auch mal etwas vertraulich besprechen können.
Digitales Gedächtnis: Das Bonmot «Das Internet vergisst nichts» ist allgemein bekannt. Dieses Nichtvergessen hat manchmal verheerende Folgen: «Es bestraft uns für unsere Jugendsünden bis in alle digitale Ewigkeit.» Für das seelische Gleichgewicht ist aber nicht nur das Erinnern, sondern auch das Vergessen wichtig.
Roboter: Was gestern Science Fiction war, wird zum Alltag. Das Smartphone ermöglicht die lückenlose Überwachung. Mehr als 60% der Kommunikation im Internet erfolgt zwischen Computerprogrammen, nicht zwischen Menschen. «Keine schöne neue Welt», findet der Buchautor.
Medialisation: Wir sollten uns davor hüten, unsere Zivilisation so weit wie möglich ins Netz zu verlagern, warnt Bert te Wildt. Im Netz kann man sich nicht verlieben, und es gibt dort keine körperliche Nähe. Für das Teilen des grössten Glücks und des tiefsten Leid gibt es keinen Platz im Cyberspace.
Bert te Wildt: «Digital Junkies», Droemer Verlag 2015