Die Sonne brennt. Mücken stürzen sich gierig auf jeden Besucher, denn hier kommt selten jemand vorbei. «Todt ist nur, wer vergessen wird», steht auf einem pompösen Grabdenkmal. Die Angehörigen haben einen grossen Aufwand betrieben, damit die Toten nicht vergessen werden. Doch die Nachwelt weiss nicht damit umzugehen. Das eiserne Eingangstor zum Friedhof ist verschlossen. Die Toten ruhen in einem Zwischenreich zwischen dem Vergessenwerden und der Erinnerung.
«Ruhen» nicht ganz das richtige Wort. Zwar ist die Atmosphäre sehr friedlich. Wilde Blumen blühen zwischen den Gräbern, und Eidechsen huschen über die Steinplatten. Doch alle paar Minuten wird die Ruhe durchbrochen durch Schnellzüge, S-Bahnen und Güterzüge, die über die daneben liegende Bahnlinie rollen.
Fürs Auge bietet der Friedhof enorm viel. Selten sieht man auf Friedhöfen nördlich der Alpen soviel reichhaltige Skulpturen aus dem 19. Jahrhundert. «Wer im Gedächtniss seiner Lieben lebt, ist ja nicht todt, er ist nur fern.» All die Steinurnen und Marmorskulpturen hatten ihren Preis. Das konnten sich nur Reiche leisten. Genauer gesagt: Ein Clan von Fabrikbesitzern liess zwischen der Limmat und den Bahngleisen ihren Privatfriedhof mitsamt einer wunderschönen Backsteinkapelle erbauen.
Das prächtigste Grab ist mit einem lebensgrossen Engel aus weissem Marmor geschmückt. Diese Skulptur wurde von Richard Kissling gestaltet, der auch die Denkmäler für Wilhelm Tell und Alfred Escher hergestellt hat.
Auf der anderen Seite der Gleise sind die gewöhnlichen Leute begraben. Ihre Grabsteine sehen alle gleich aus und sind in regelmässigen Abständen aufgestellt, und sie werden regelmässig auch wieder abgeräumt. Im Privatfriedhof der Reichen ist hingegen die Zeit still gestanden. Seit hundert Jahren wurde hier wenig verändert. Und in den nächsten hundert Jahren wird sich vermutlich ebenso wenig ändern.
Die Kapelle ist dem «Hl. Ludwig gewidmet». Die Namenswahl ist kein Zufall, denn eine Marmortafel über der Eingangstüre trägt die Inschrift: «Erbaut zum Andenken an unsern lieben Vater». Man muss wissen: Der Vater hiess ebenfalls Ludwig zum Vornamen. Er war Besitzer einer Spinnerei. Seine Arbeiter hatten wenig zu lachen. Und ihre Angehörigen hatten kein Geld, um Kapellen zu bauen für ihre lieben Väter. Davon abgesehen ist die Kapelle ein wunderschöner Backsteinbau, eine der schönsten Sakralbauten des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Eigentlich schade, dass das Eingangstor zu ist. Andererseits ist es gut so, denn das geschlossene Tor schafft die fast traumhafte Atmosphäre im Privatfriedhof. Möge das Tor für immer geschlossen bleiben.
Fotos: Andreas Gossweiler