Wir alle sind Pony M.

Drei Wochen lang liess die Bloggerin Pony M. ihr Leben «fremdbestimmen» – im Auftrag von SRF Kultur. Mit dem Experiment wollte SRF zeigen, wie Meinungsbildung im Netz funktioniert. Die Leute konnten abstimmen, wie Pony M. den Stimmzettel zum Thema Mindestlohn ausfüllen soll («Nein»), ob sie eine Woche lang vegan essen soll («Ja») und ob sie erfahren soll, ob sie ein Risiko für Zystische Fibrose hat («Nein»).

In Blogs und Social Media entwickelte sich ein kleiner Shitstorm. Von «Medienmanipulation» war die Rede, sogar von «Schwachsinn» und «Zerrform einer demokratischen Methode». Letztes Zitat stammt vom Lehrer Philippe Wampfler, der sich «Social-Media-Experte» nennt.

Was die Kritiker vergessen: Alle Menschen, die Social-Media-Kanäle benützen, verhalten sich längst wie Pony M., und dies Tag für Tag. Will heissen: Wer sich der Welt auf Twitter, Facebook und ähnlichen Kanälen präsentiert, tut dies oft (bewusst oder unbewusst) in der Absicht, sein Image zu verbessern. Zu diesem Zweck präsentiert man sich so, dass man möglichst viel Zustimmung erntet und möglichst wenig Kritik.

Die amerikanische Psychologin Sherry Turkle warnte in ihrem Standardwerk «Verloren unter 100 Freunden»: «Die Social Media animieren uns dazu, uns in plakativer Form darzustellen.» Sie sprach mit Jugendlichen, die «immer mehr Zeit» damit verbringen, ihren «Online-Mr-Cool zu perfektionieren».

Diese mediale Selbstdarstellung hat unweigerlich Folgen für das gesamte Leben. Der deutsche Journalist Dirk Kurbjuweit schrieb im Spiegel (24/2014): «Es liegt nahe, dass wir uns bald Gedanken darüber machen, wie wir Zustimmung und Aufmerksamkeit generieren… dass wir Dinge schreiben oder tun, die ankommen.» Manche User machen, so Kurbjuweit, «aus ihrem Leben auf Facebook eine permanente Erzählung, und vielleicht versuchen sie irgendwann, das zu erleben, was ihnen Punkte einträgt.»

Dann unterscheidet sich das Leben der Facebook-User nicht mehr vom Pony-M-Experiment: Man lebt sein Leben nicht mehr so, wie es einem gefällt, sondern so, dass es den Facebook-Freunden gefällt. «Damit fängt es an, das Sein für andere, die innere Zurichtung, die Reform der Identität.» Dirk Kurbjuweit nimmt direkt Bezug auf die Staatsform der Demokratie: «Das digitale Volk mischt sich ein, nimmt Einfluss, stimmt ab und entscheidet über Sieger und Verlierer.»

Das vergessen die Pony-M-Kritiker wie Philippe Wampfler.

Über agossweiler

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