2013 – das Jahr, in dem das Internet entzaubert wurde

Möglich, dass 2013 in die Geschichte eingehen wird als Jahr, in der das Internet entzaubert wurde. Und das nicht nur, weil die Schnüffelei der NSA publik wurde. Drei Autoren haben kräftig gesägt am Mythos des Internet, das angeblich Information demokratisiert und alle Menschen glücklicher, freier und klüger machen soll. Dieser Mythos wurde in den letzten Jahren von amerikanischen Vordenkern wie Clay Shirky, deutschen Aposteln wie Sascha Lobo und Schweizer Jüngern wie Ronnie Grob verbreitet und stiess kaum auf Widerspruch.

Das hat sich geändert. Am eloquentesten demontierte Evgeny Morozov den Internet-Mythos. In seinem Buch «To Save Everything, Click Here», das im März auf englisch erschien und im Oktober unter dem Titel «Smarte neue Welt» auf deutsch, hat Morozov die digitalen Verheissungen mit der Realität abgeglichen. Unterfüttert mit vielen Fakten, benannte Morozov den Glauben, dass Computer alle Probleme lösen könnten, als «Internetzentrismus». Er zeigte, dass Twitter vielleicht half, die Proteste in arabischen Ländern zu organisieren, aber auch dazu beitrug, dass sie versandeten, weil das soziale Medium die Protestbewegung völlig horizontal und dezentral organisierte. Morozov prägte auch den Begriff «Solutionism», womit er kritisiert, dass Computerfirmen Lösungen anbieten für Probleme, die gar keine sind – zum Beispiel, indem sie Dinge wie die «personalisierte Zeitung» erfinden, welche dazu führt, dass die Leser nur noch diejenigen Artikel sehen, von denen sie glauben, dass sie sie interessieren, was den Blick auf die Welt stark verengt.

Im Mai erschien «Who Owns The Future?» von Jaron Lanier. Im Unterschied zu Morozov kommt Lanier aus dem Zentrum des Silicon-Valley-Kuchens. Seine Kritiker haben es weniger leicht, ihn als «Zivilisationspessimisten» zu diskreditieren. Auch Lanier hat die dunklen Seiten des Internets mit viel Sachkenntnis ausgeleuchtet. Er konzentrierte sich auf die wirtschaftlichen Aspekte. Das Internet habe mehr Jobs vernichtet, als es geschaffen habe, bilanziert er. Während bisher vor allem Journalisten, Musiker und Fotografen arbeitslos wurden wegen des Internets, könnten Computer in Zukunft auch Chauffeure, Fabrikarbeiter oder sogar Ärzte ersetzen. Jaron Lanier macht darauf aufmerksam, dass heute die Urheber von Informationen oft leer ausgehen. Darum schlägt der Autor vor, mit einem System von «Micropayments» alle Urheber zu entschädigen, wenn die Informationen, die sie generieren, von anderen Benützern abgerufen werden.

Radikal liest sich auch die Kritik am politischen Arm des «Internetzentrismus», nämlich an der Piratenpartei, die Johannes Braun als Anonymus unter dem Titel «Digital naiv» im August veröffentlichte. Den Piraten wirft Braun vor, sie würden das Internet vergöttern und seine negativen Seiten ausblenden. Da Braun eine Zeit lang aktiv bei den Piraten mitarbeitete, konnte er sein Buch mit Interna würzen. So wirft er prominenten Piraten vor, sie seien internetsüchtig. Das liest sich stellenweise unterhaltsam, etwa, wenn er von einem Kadermitglied berichtet, der eine Zeitlang nur das Wort «Pferd» twitterte. Doch neben solchem Klatsch präsentiert Braun auch viele Fakten zur Internetnutzung. So demontiert er den Glauben an die «Demokratisierung» des Internets mit dem Hinweis darauf, dass das gesamte Netz durch eine intransparente Organisation, die ICANN, kontrolliert wird, dass Konzerne wie Google neue Monopole errichtet haben und dass die meisten Blogger niemals ein grosses Publikum erreichen.

Evgeny Morozov: «To Save Everything, Click Here», Public Affairs 2013 / «Smarte neue Welt», Karl Blessing Verlag 2013
Jaron Lanier: «Who Owns The Future?», Simon & Schuster 2013
Anonymus: «Digital naiv», Orell Füssli Verlag 2013

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