Das Internet macht vieles möglich. Jede/r kann ein Blog eröffnen und wird (zumindest theoretisch) zum Publizisten. Über die Vor- und Nachteile von Blogs wurde schon viel diskutiert. Andere Anwendungen des Internets sind problematisch. So führen Patientenkollektive übers Internet in Eigenregie Selbstversuche mit neuen Medikamenten durch – und laufen damit Gefahr, sich selber zu schädigen.
Problematisch ist auch die Verwendung des Internets als Pranger. Eine Funktion, die an Praktiken des Mittelalters anknüpft. In den letzten Tagen liessen sich zwei solche Versuche beobachten, Leute im Internet anzuprangern. Der Zürcher Kantonsrat Claudio Zanetti erwähnte via Twitter den bürgerlichen Namen des jungen Straftäters «Carlos». Und der prominente Meteorologe Jörg Kachelmann twitterte den bürgerlichen Namen einer Journalistin, die laut einem Bericht des Tages-Anzeigers Stars gestalkt haben soll.
Was ist davon zu halten? Zunächst: Die professionellen Medien (wie der Tages-Anzeiger) haben die bürgerlichen Namen der beiden erwähnten Personen nie erwähnt. Das entspricht gängiger Praxis und hat einen bestimmten Grund: Straftäter sollen von der Justiz bestraft werden (oder freigesprochen, falls sie keine Straftat begangen haben). Die Medien müssen die Privatsphäre der (mutmasslichen) Straftäter respektieren. Denn das Nennen der bürgerlichen Namen erschwert die Resozialisierung. Die Straftäter müssen die Möglichkeit haben, sich wieder in die Gesellschaft zu integrieren – eine Wohnung suchen, einen Arbeitsplatz finden. Das wird massiv schwieriger, wenn der bürgerliche Name bekannt wird. Deshalb schreiben professionelle Medien den Namen von Straftätern nur in Ausnahmefällen – wenn eine Person sehr prominent ist, oder wenn der Name schon vorher bekannt war.
Wenn aber Privatleute via Twitter nach eigenem Gutdünken die Namen von Straftätern und mutmasslichen Straftätern publik machen, verstossen sie nicht nur gegen die wichtige Regel der professionellen Medien, sondern sie erschweren deren Resozialisierung. Das ist ein sehr problematischer Aspekt der Internet-Nutzung. Selbstjustiz darf es in einer modernen Gesellschaft nicht geben. Sie kann fatale Folgen haben, zum Beispiel als nach dem Anschlag in Boston der Name eines jungen Mannes herumgeboten wurde, der unschuldig war und der sich später das Leben nahm.
Heute ist es ohne weiteres möglich, dass Privatleute das Internet als Pranger missbrauchen. In Windschatten der freien Meinungsäusserung wird das von der Öffentlichkeit toleriert. Ich finde das falsch. Es müsste eine Möglichkeit geben, um das Anprangern im Internet zu stoppen. Denn der Internet-Pranger widerspricht wichtigen Grundsätzen der Medienproduktion und auch der Justiz.
Update 8.12. In seinem Newsletter erinnert der eidgenössische Datenschutzbeauftragte an die Regeln bezüglich Namensnennung von Straftätern: «Eine Publikation ihrer Namen setzt ein wichtiges öffentliches Interesse voraus, etwa wenn sie der Warnung der Bevölkerung vor einem flüchtigen Verbrecher dient. Ist dies nicht der Fall, so muss die Identität der Betroffenen verhüllt werden.» Der Datenschützer erinnert daran, dass das oberste Ziel die Resozialisierung ist: «Tötungsdelikte lösen weit über den Kreis der Angehörigen hinaus Entsetzen und Zorn aus. Damit verbunden werden auch Rufe laut nach Vergeltung in Form einer Anprangerung. Dieses Motiv lässt der Rechtsstaat, der Straftätern grundsätzlich eine Chance auf Resozialisierung zugesteht, allerdings nicht gelten.»
Aber auch wenn einige Medien einen Namen genannt haben, ist es oft nicht angebracht, dass jeder den Namen x-mal in den sozialen Medien wiederholt – vor allem dann, wenn es nicht eine „öffentliche Person“ ist