Eine Deutsche, die ein paar Jahre in der Schweiz gelebt und gearbeitet hat, erzählte mir mal ein Erlebnis, das mir zu denken gab. In einer hektischen Verkehrssituation beschwerte sie sich bei einem Autofahrer, der ihr den Weg abgeschnitten hatte. Als der Autofahrer an ihrer Sprache ihre Nationalität erkannte, blaffte er zurück: «Geh doch zurück nach Deutschland, wenn es dir hier nicht passt.» Diese Episode kommt mir immer in den Sinn, wenn irgendwo über das Verhältnis zwischen Schweizern und Deutschen diskutiert wird.
Und zu diskutieren gibt es viel. Das sah man in den letzten Tagen wieder, nachdem der deutsche Journalist Christoph Plate in der NZZ am Sonntag öffentlich darüber nachdachte, warum viele seiner Landsleute, die in die Schweiz gezogen sind, wieder in ihr Heimatland zurück kehren. Plate erlaubte sich, ein nicht nur schmeichelhaftes Bild unseres Landes zu zeichnen. Er sprach von einer «Behaglichkeit, die schläfrig zu machen droht», von einer «Kultur, zu der wir nie gehören werden, weil man uns nicht lässt», von einer «nicht vorhandenen Streitkultur», von einem ständigen «Grundmisstrauen» gegenüber Fremden. Sein Fazit lautet, es sei richtig gewesen, die Schweiz zu verlassen.
Seither sind mindestens vier lange Repliken auf Plates Text erschienen sowie hunderte Kommentärchen. Viele davon sind in einem entrüsteten, empörten, beleidigten Tonfall geschrieben. Man kann von Plates Text halten, was man will – ich finde, er enthält einige scharfsinnige Beobachtungen, die zutreffen (und abgesehen davon – welche Person, welches Land ist dermassen perfekt, dass es ihm nicht gut tun würde, wenn ihm ab und zu jemand einen kritischen Spiegel vorhält?) Was mich stutzig macht, ist die Entrüstung der Replikschreiber. Wenn es gar nicht stimmen würde, was Plate schrieb – dann wäre es doch nicht nötig, den Autor verbal in Grund und Boden zu stampfen, wie das die Replikschreiber versuchen. Wer seine Qualitäten kennt, hat es doch nicht nötig, auf Kritik derart offensiv zu reagieren, wie dies die Plate-Gegner taten.
Beispiel 1 Eine Bloggerin wirft Plate vor, er habe ihr persönlich «auf die Kappe geschissen», sie wirft ihm auch «rassistische Pauschalisierungen» vor, aber auch «intellektuelles Gehabe», «aggressiven Tonfall», und zu (un)guter Letzt schreibt die Bloggerin auch noch, Plate bestätige das Klischee des «arroganten Deutschen». Plates elegante Florettstreiche beantwortet die Bloggerin also mit plumpen Holzhammer-Hieben. Eine souveräne, selbstsichere Reaktion würde anders aussehen. Die Verunsicherung, die diese Holzhammer-Argumente zeigen, würde ein Psychologe vielleicht als Indiz dafür deuten, dass die Autorin eigentlich weiss, dass Plates Kritik doch ziemlich gut begründet ist.
Beispiel 2 Im Online-Magazin Clack schreibt eine Kolumnistin eine nicht weniger erboste Replik. Für diese Autorin genügen die in grosser Zahl in der Schweiz lebenden Ausländer als Beweis, dass es in der Schweiz weder Rassismus noch Antisemitismus gibt. Jawohl, das hat die Autorin so geschrieben: «Wenn dem tatsächlich so wäre, würden nicht XXX Ausländerinnen und Ausländer hier leben». Ich musste zweimal hingucken, aber dieser unglaublich naive Zirkelschluss steht genau so da in dem Artikel. Dann folgen überheblich anmutende Belehrungen, etwa dass es kein einheitliches Schweizerdeutsch gebe, was Christoph Plate in seinen zehn Jahren in der Schweiz zweifellos selber gemerkt hat. Plates feinsinnige und humorvoll erzählte Beobachtung, dass ein Polizist seine Papiere zurückgab mit der Bemerkung, diese «scheinen in Ordung zu sein» (statt zu sagen, «sie sind in Ordnung»), findet die Autorin nur «lächerlich». Auch diese Autorin gibt zurück mit dem Holzhammer statt mit dem Florett. Zum Schluss drückt sie ihren Wunsch aus, es mögen nur noch Deutsche in die Schweiz ziehen, die «uns und unser Land zu schätzen wissen». Gemeint ist: Leute, die niemals öffentlich Kritik an der Schweiz ausdrücken. Entlarvend ist der Text der URL: dort steht «dann_geh_doch_heim». Hier ist sie wieder – die miefige Reaktion, die ich bereits am Beginn erwähnt habe: Wer so frech ist und Kritik an der Schweiz anbringt, soll gefälligst wieder verschwinden.
Nur schon dieser Satz alleine zeigt deutlich, dass Christoph Plates Schweiz-Kritik wohlbegründet ist.
Lieber Herr Gossweiler
Eine Replik haben Sie vergessen: Die von Herrn Peter Schneider, ehemaliger Deutscher, im Tages Anzeiger. Hier zu finden:
http://mobile2.tagesanzeiger.ch/articles/19065038
Ich bin sehr gespannt, was Sie zu seiner Polemik zu sagen haben.
Freundliche Grüsse,
Ihre Änni
Ich habe Peter Schneiders Replik nicht vergessen. Aber im Rahmen eines Blogtexts kann ich nicht auf alle Repliken eingehen, sonst würde der Text viel zu lange. Soviel zu Schneider: 1) ist er kein Deutscher (mehr), sondern Schweizer Staatsangehöriger. 2) finde ich Schneiders Replik witziger und souveräner als die Repliken, die ich in meinem Blogtext erwähnt habe: «Ich weiss gar nicht, was die Leute immer gegen die Behaglichkeit haben. Liegen die nachts auf einem Nagelbrett?»