Marseille ist dieses Jahr europäische Kulturhauptstadt, zusammen mit dem tschechischen Košice. Früher war die Stadt eher als «Chicago am Mittelmeer» bekannt und berüchtigt. Vor fünfzig Jahren wurde in Marseille 80 Prozent des amerikanischen Heroins produziert. In seinem neuen Buch «Marseille – Porträt einer widerspenstigen Stadt» erzählt der Journalist Günter Liehr die Geschichte Marseilles von der Gründung durch griechische Siedler bis zur Gegenwart.
Bedingt durch seine geografische Lage, war Marseille immer aufs Mittelmeer ausgerichtet. Die Hafenstadt ist umgeben von Bergketten, was die Verkehrsbeziehungen nach Norden erschwerte. Um eine Bahnlinie zu bauen, war ein fünf Kilometer langer Tunnel unter dem Nerthe-Massiv nötig, das war 1847 eine formidable Aufgabe. Die Orientierung zum Meer hatte zur Folge, dass sich Marseille immer ein bisschen widerborstig gegenüber dem französischen Staat verhielt. Zwar beteiligten sich Marseiller früh und begeistert an der Revolution. Aber sobald die Revolution erfolgreich war, wollten sie nach ihren eigenen Regeln leben und widersetzten sich Befehlen aus der Hauptstadt.
Auch über die Wirtschaftsgeschichte erfährt man in Liehrs Buch viel Spannendes. Die Hafenstadt erfand sich im 19. Jahrhundert neu als Industriezentrum, indem einkommende Rohstoffe gleich an Ort und Stelle weiterverarbeitet und die fertigen Produkte wieder verschifft wurden. So entstand unter anderem die Seifenindustrie. Nachdem die französischen Kolonien selbständig wurden, geriet der Hafen und die Industrie in eine Krise.
Seit über hundert Jahren versuchen Städteplaner, die als chaotisch empfundene Stadt neu zu gestalten. Auch von diesen Bemühungen berichtet Günter Liehr. Der schwerste Eingriff ins Stadtbild war die Sprengung des alten, verwinkelten Hafenquartiers durch die Nazis. Die französischen Behörden waren nicht dagegen, sie hatten schon vor dem Krieg ähnliche Pläne. Seit ein paar Jahren wird die Stadt nochmals stark umgestaltet. Beim Joliette-Hafen wird ein neues Quartier aus dem Boden gestampft. Statt Lagerhäusern und Rangierbahnhöfen entstehen Hochhäuser von berühmten Architekten wie Zaha Hadid und Jean Nouvel. Mit diesem gigantischen Projekt namens «Euroméditerranée» wollen die Stadtbehörden Marseille aus dem Sumpf von Arbeitslosigkeit und Kriminalität befreien und sein Image endlich verbessern.
Günter Liehr kommentiert die Neubauten kritisch: «Um die Bedürfnisse und Nöte der Leute, die das bisherige Marseille bewohnen, geht es nicht, sondern um die Wünsche und die Interessen einer neuen, bislang noch hypothetischen Bevölkerung.» Ob die Pläne der Behörden und Investoren aufgehen, ist für Liehr nicht sicher: «Vielleicht wird es doch noch ein wenig dauern, bis aus Marseille eine „normale“ europäische Grossstadt wird.»
Günter Liehr: «Marseille – Porträt einer widerspenstigen Stadt», Rotpunktverlag 2013
Fotos: Andreas Gossweiler