In der Weltwoche bezeichnete Kurt W. Zimmermann Chefredaktoren, die nicht twittern, als «Hasenfüsse» und «Hinterwäldler». Die Kolumne hat Andrea Masüger, CEO der Südostschweiz Medien, zu einer Replik im Medienspiegel inspiriert. Dort entgegnet Masüger:
«Es scheint erwiesen zu sein, dass das ständige Info-Bombardement und das dauernde Hin und Her zwischen verschiedenen Thematiken die Effizienz hemmen, das Denken zerfasern und uns letztlich zu Psychopathen machen.»
Als Schlusspointe mokiert sich Masüger über den Tweet eines Chefredaktors, der schrieb, dass er dank des Regenwetters nicht unter Heuschnupfen leidet. «Muss ich das wissen?» fragt sich der Südostschweiz-CEO.
Die Reaktion der Medienspiegel-Stammkommentatoren auf Masügers Text war absehbar. «Was soll die konservative Haltung?» fragt Blogger Ronnie Grob. Und der Blogger Bugsierer schiebt eine Tirade nach über «Medienleute, die insgeheim immer noch hoffen, dieses Internet möge bald wieder ausgeknipst werden» und die sich angeblich «den neuen Kanälen verweigern wie weiland die Rheinschiffer der Dampftechnik.» Die beiden Reaktionen zeigen: Einmal mehr jaulen die Netzapostel reflexartig auf, wenn jemand wie Masüger sich erdreistet, Twitter oder eine andere Anwendung des glorreichen Internets zu kritisieren. Es wäre jedoch toll, wenn man übers Internet diskutieren könnte, ohne dass einem immer wieder unterstellt wird, man wolle das Internet abschaffen. Wenn man sich über die schlecht programmierten Billettautomaten aufregt, kommt auch niemand auf die Idee, einem zu unterstellen, man wolle die SBB abschaffen. Nur wenns ums Internet geht, ist eine Diskussion anscheinend unmöglich, ohne dass der alberne Vergleich mit der Dampftechnik zum hunderttausendsten Mal aufs Tapet kommt.
Immer wieder werden zudem Mythen heruntergebetet, die bei der x-ten Wiederholung nicht wahrer werden. Zum Beispiel der Mythos, man dürfe nicht über Twitter reden, ohne es ausprobiert zu haben. Ronnie Grob schreibt: «Fast jeder, der Twitter ausprobiert hat, kann es bestätigen: Das Urteil nachher ist anders als das Urteil vorher war.» Ich habe Twitter seit circa drei Jahren ausprobiert und bin so schlau wie zuvor. Bevor ich es ausprobierte, hielt ich Twitter für einen Haufen Geschwurbel, durchsetzt mit einigen interessanten Häppchen. Nach drei Jahren weiss ich, dass Twitter ein Haufen Geschwurbel ist, durchsetzt mit einigen interessanten Häppchen. Klar sollte man als Journalist alle möglichen Kanäle durchforsten. Aber Twitter ist bei weitem nicht die unverzichtbare Wundermaschine, als die sie Leute wie Ronnie Grob heraufstilisieren.
Klar kann man Leute entfolgen, die langweiligen Klatsch twittern. Doch wenn man keinen langweiligen Klatsch in seiner TL sehen will, hat man am Ende kaum noch Leute, denen man folgen kann. Wenn man jedoch wie Ronnie Grob 988 (neunhundertachtundachtzig) Twitterern folgt, ist die Timeline garantiert mit 90 Prozent Klatsch und Heuschnupfen-Tweets verstopft, so dass es grausam mühsam (oder eine Sache des Zufalls) wird, noch irgendwelche interessanten Meldungen heraus zu filtern. Daraus folgt: Twitter ist sicher nicht die «digitale Zukunft der Medienbranche» (Zitat Zimmermann), deshalb ist es auch nicht nötig, dass alle Chefredaktoren selber twittern. Und die, die es nicht tun, sind deshalb auch nicht «reine Theoretiker», wie Zimmermann schwadroniert.
Und es ist purer Blödsinn, wenn Ronnie Grob und Andreas Kunz in der Weltwoche schreiben: «Freunde der Wahrheit haben allen Grund, dieses Werkzeug zu schätzen». Twitter bringt nicht «die Wahrheit» an den Tag (was immer das sein mag), sondern entfesselt eine gewisse Eigendynamik. Twitter macht die User entweder konzilianter oder provokativer, als sie normalerweise sind, hat der Internet-Theoretiker Jaron Lanier festgestellt. So wie Lanier sollte man über Twitter diskutieren. Und nicht immer wieder den gleichen Schwachsinn von wegen «Medienleute hoffen, das Internet möge bald wieder ausgeknipst werden» repetieren.
Update 9.6. Das gleiche Phänomen wiederholt sich heute, nur vier Tage später. Der Anlass ist diesmal ein Twitter-kritischer Artikel mit dem Titel «Wir zwitschern uns zu Tode» von Michael Furger in der NZZaS (nicht online). Furger erlaubt sich, Offensichtliches auszusprechen wie: «Twitter dient wahrscheinlich weniger der Rettung der Welt als dem Ego seiner Nutzer» oder: «Das Hurra auf die sozialen Medien blendet all die Abscheulichkeiten und den Stumpfsinn aus, die täglich über diese Plattformen in die Welt geblasen werden.» Im Text nimmt Michael Furger auch Bezug auf das Twitter-Opfer Sunil Tripathi, der via Social Media fälschlicherweise als Terrorist bezeichnet wurde und in der Folge tot aufgefunden wurde. Sofort ging auch auf Twitter das reflexartige Wehklagen los: «Leider etwas peinlich. Wenig Ahnung, nicht mal stringent argumentiert», seufzte NZZ-Digitalchef Peter Hogenkamp. Und Politikberater Mark Balsiger twitterte: «NZZaS-Autor Michael Furger ist offenbar Nicht-Twitterer. Wer schreibt die Replik?» Wie wenn ein Journalist bei jeder Gruppe selber aktiv mitmachen müsste, bevor er darüber schreiben darf.