Der Wunsch nach «personalisierten» Medien wird immer wieder geäussert. Gemeint ist: Man kauft nicht mehr eine Zeitung, sondern nur noch einzelne Artikel. Evgeny Morozov zeigt, dass die Personalisierung noch viel weiter geht: In Zukunft könnten Zeitungsartikel – oder sogar komplette Bücher – speziell für bestimmte Leser geschrieben werden, je nach den persönlichen Vorlieben des einzelnen Lesers mit unterschiedlichen Titeln oder unterschiedlichen Leads ausgestattet, begleitet von Inseraten, die auf den persönlichen Geschmack der Konsumenten zugeschnitten sind. Die Computertechnologie macht es möglich, den Geschmack aller Leserinnen und Leser zu erfassen und die Medienprodukte entsprechend zu gestalten. Für Morozov ist das keine traumhafte Vorstellung, sondern ein Alptraum. Denn es steht viel auf dem Spiel, gibt er zu bedenken:
«This kind of personalization might destroy the opportunities for solidarity and informed debate that occur when the entire polis has access to the same stories.»
Mit anderen Worten: Wenn jede und jeder nur noch auf den persönlichen Geschmack zugeschnittene Häppchen aufschnappt und sich weigert, auch Themen oder Meinungen wahrzunehmen, die vom eigenen Geschmack abweichen, dann läuft die Gesellschaft Gefahr, zu zerfallen.
Laut Morozov hat die Personalisierung auch gravierende Folgen für die Medienproduktion – denn sie schafft den Anreiz für Verlage, vorwiegend Inhalte, die möglichst vielen Lesern gefallen, unters Volk zu bringen. Artikel, die wenig Leute ansprechen, kommen unter die Räder:
«In a Google world where nobody clicked on those stories, they would go down in priority – or disappear.»
Deshalb ist es laut Morozov besser für den Journalismus, wenn er die Vorlieben seiner Leserinnen und Leser nicht bis ins letzte Detail kennt – und es ist auch besser für die Leserinnen und Leser, wenn sie nicht die Möglichkeit haben, einzelne Artikel zu kaufen.
Auch die modische Kritik an den «Gatekeepers» (Zeitungs- und Berlage, Zeitungen, Plattenfirmen), die das Internet überflüssig mache, entlarvt Evgeny Morozov als oberflächlich. Denn in einer Welt, in der es keine Verlage mehr gibt, sondern nur noch Plattformen wie Amazon oder Facebook, existieren weiterhin Gatekeepers, nur sind sie nicht mehr die gleichen wie zuvor:
«If Amazon’s dream of a world without gatekeepers becomes reality, then the company itself will become a powerful gatekeeper.»
Auch hier sind die Auswirkungen auf die Medienproduktion und die Konsumenten laut Morozov schwerwiegend. Denn Amazon verfolge eigene Interessen, die nicht mit den Interessen aller Leser deckungsgleich sind:
«By essentially abandoning the publishing process to the vagaries of the market, it will make certain book projects likelier – yes, we want more stories about bespectacled wizards – and others less so – please, not another biography of some obscure Japanese general!»
Morozov fordert deshalb:
«Someone ought to publish a book about the doomsayers who keep publishing books about the end of publishing.»
Zudem sind die neuen Gatekeeper sind alles andere als neutral. Das zeigt Morozov am Beispiel der Firma Impermium, die Filter entwickelt für Unternehmen wie WordPress, Tumblr oder The Washington Post, die unter anderem unliebsame Leserkommentare («Hate speech and profanity») blockieren:
«A single Californian company makes decisions over what counts as hate speech and profanity for some of the world’s most popular sites without anyone ever examining whether its own algorithms might be biased or excessively conservative.»
Ähnlich verhalten sich bekanntere Internetfirmen. Immer wieder kursieren Meldungen über unterdrückte Inhalte. Zwei neuere Beispiele: Facebook sperrt Aktfotos des Museums Jeu de Paume. Facebook löscht Text, in dem sich ein deutscher Talkmaster kritisch über die katholische Kirche geäussert hatte. Wahrlich: Leute, die unkritisch jubeln, das Internet «demokratisiere» die Medienproduktion, blenden viele Tatsachen aus, die nicht zu ihrer These passen. Morozov hat dafür ein schönes Wort erfunden: er nennt diese Einstellung «Cybernaivété». Warum das «bashing of gatekeepers» so populär ist bei den «geeks», dafür hat Morozov eine originelle Erklärung:
«It might have to do with the cult of the Protestant Reformation. Just as the church was seen as an unnecessary and corrosive gatekeeper that interfered with direct communication with God, so are publishing institutions seen as essentially precluding unmediated access to the world of memes and ideas.»
Evgeny Morozov: To Save Everything, Click Here. Public Affairs 2013
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