Nach langer Zeit fand ich im Magazin wieder einmal einen Artikel, der das leistet, was ich von einem Magazin-Artikel erwarte – dass er mich zum Denken anregt. David Iselin schrieb einen Text über den weissrussischen Publizisten Evgeny Morozov. Der ist kein Internet-Verächter. Iselin zitiert Morozov wie folgt: «Das iPad hat mich viel produktiver gemacht. Ich muss nicht ständig meine Notizen mitschleppen.» Morozov benutzt auch Kindle. Dennoch sieht er auch die negativen Auswirkungen, die das Internet haben kann. Zum Beispiel:
• Evgeny Morozov warnt, dass das Internet unsere Welt so gestaltet, «dass wir die Konsequenzen unserer Handlungen nicht mehr absehen können.» Nach den diversen Facebook- und Twitter-Skandalen kann man nur sagen: Genau so ist es. Man setzt ein dummes Tweet in die Welt, und am nächsten Tag ist man, wenn man Pech hat, seinen Job los und versteht die Welt nicht mehr. 140 Buchstaben genügen, um eine Karriere zu beschädigen oder zu beenden. Oder in Morozovs/Iselins Worten: «Es kann passieren, dass uns ein Tweet über einen Joghurt, den wir nicht mögen, die Polizei ins Haus bringt. Bloss weil einer drei Jahre früher den Joghurt auch nicht mochte und darüber tweetete, bevor er jemandem das Gesicht wegschoss.»
• Auch zum Self-Tracking hat sich Morozov Gedanken gemacht. Self-Tracking ist eine neue Bewegung, deren Anhänger ihren Blutdruck und andere messbare Werte messen, in der Hoffnung, es liessen sich daraus neue medizinische Erkenntnisse gewinnen. Morozov warnt, der Einzelne könne «in Zukunft nicht mehr selbst entscheiden ob er sich tracken will oder nicht.»
• Viel ist in letzter Zeit die Rede von der sogenannten «personalisierbaren Zeitung». Gemeint ist: Der User setzt sich aus Texten und Artikelchen, die er da und dort aus dem Internet fischt, seine Zeitung sozusagen selbst zusammen. Kritisch bemerkt Morozov dazu: «Zu glauben, dass wir damit das Gleiche tun könnten wie eine Qualitätszeitung, ist einfach Bullshit.» Nur Journalisten sind, so Morozov, in der Lage, aufgrund ihrer professionellen Erfahrung in der Lage, zu entscheiden, welche Themen wie aufbereitet werden müssen, damit die Leserinnen und Leser so umfassend wie möglich informiert sind.
• Von sich selbst sagt Evgeny Morozov: «Ich kämpfe mit Leuten wie Jeff Jarvis, die Vergötterungsfantasien von Google schreiben.» Morozov wehrt sich gegen Leute, die mit religiösem Feuer behaupten, das Internet sei «die Lösung für alle und alles.»
Einer, der hierzulande Jeff Jarvis nacheifert, ist Ronnie Grob. Der Blogger hat keine Freude an Evgeny Morozov. In der Medienwoche schreibt Grob: «Solange die grossen, auch positiven Umwälzungen durch das Netz von den etablierten Journalisten verschwiegen werden, kann keine vernünftige Debatte stattfinden.» Sogar die Wahl des Autors Iselin missfällt Grob: «Ein so wichtiges Thema wie das Internet ist offenbar nicht Chefsache.» Ronnie Grob zählt einige Namen auf, die seiner Meinung nach «erhellend über das Internet schreiben», Namen wie Sascha Lobo oder Stefan Niggemeier – Schreiber vom Schlag eines Jeff Jarvis, die vom Internet ausschliesslich Gutes erwarten.
Entlarvend ist die folgende Passage in Ronnie Grobs Text: «Kann sich jemand an einen Titel eines Printmagazins erinnern wie „Die beste Erfindung aller Zeiten: Wir feiern das Internet“?»
Ohne Ronnie Grob wäre das deutschsprachige Internet weniger unterhaltsam gewesen. Heute sorgt er endlich mal wieder für grosse Erheiterung. Das sind also die journalistischen Ideen, die der Presse zu Erfolgen verhelfen sollen, lobhudelnde Periodika mit Titeln wie „Die beste Erfindung aller Zeiten: Wir feiern das Internet“?
So argumentiert der Vorstand eines Küngelizüchtervereins, wenn er sein Hobby wieder mal zu wenig positiv dargestellt findet. Küngelizüchter sind eben auch keine Journalisten.
Scherz mal beiseite: Es stimmt nicht mal, dass solche Berichte nicht gedruckt wurden. Liest Ronnie Grob denn keine Presse? Oder meint er etwa gar ein regelmässiges Magazin mit diesem grossartig anziehenden Titel? Etwas wirr. Wahrscheinlich einfach unüberlegt hingeschrieben. Wie es Evangelisten eben gerne tun.
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