Dicke Post servieren heute die Online-Ausgaben des Tages-Anzeigers (Link inzwischen gekappt – siehe Kommentare) und der Basler Zeitung: «Alle fünf Minuten wird ein Christ ermordet» – so lautet der reisserisch formulierte Titel. Der Lead wartet mit weiteren Superlativen auf: Der islamische Extremismus bringe dem Christentum «die grösste Glaubensverfolgung seiner Geschichte», berichtet Thomas Wehrli, stellvertretender Ressortleiter Politik der BaZ. Der Lauftext schürt von A bis Z heftige Emotionen. Die ersten Abschnitte beginnen mit suggestiven Verben: «Gefangen, gefoltert, getötet» oder «Entführt, entehrt, enthauptet».
Im weiteren Verlauf des Artikels jongliert Thomas Wehrli mit allerlei Zahlen. Diese Zahlen hat er von der fundamentalistischen christlichen Organisation Open Doors bezogen, die er als «überkonfessionelles Hilfswerk» darstellt. Als Spezialität erstellt «Open Doors» eine Art «Hitparade» der Länder, in denen Christen angeblich besonders heftig verfolgt werden.
Weiter gehts mit drastischen Verben: «Aufgegriffen, ausgepeitscht, aufgespitzt» (was immer sich der Autor unter «aufspitzen» vorstellt). Die Verfolgung der Christen, so Wehrli, trage «in ihrer Massierung, ihrer Grausamkeit, ihrer Unerbittlichkeit fast immer den einen Namen: islamischer Extremismus». Auch «Open Doors» warnt vor den Islamisten, Wehrli zitiert die Organisation wie folgt: «Christen droht die grösste Gefahr von der seit den 1980er Jahren langsam und stetig voranschreitenden Islamisierung».
Um seine These von den gefährlichen Muslimen zu stützen, greift der Autor zu Falschinformationen. So schreibt er, der Norden von Mali werde «seit einem Jahr von einem Al-Quaida-Ableger kontrolliert». Wie wenn die französische «Operation Serval» zur Vertreibung der Islamisten nicht kurz vor dem Ziel stünde.
Thomas Wehrli wirft gewalttätige Islamisten und moderate Muslime in einen Topf. Er vergleicht islamische Länder mit Nazi-Deutschland: «Die Mehrheit der Muslime ist friedlich. Doch war das nicht auch im Dritten Reich so?» Als Kronzeugen erwähnt Thomas Wehrli ausgerechnet den umstrittenen deutschen Islamkritiker Michael Mannheimer aus dem Umfeld des islamfeindlichen PI-Blogs, der laut Wikipedia zum bewaffneten Widerstand gegen die Islamisierung in Deutschland aufgerufen hat und der wegen Volksverhetzung mit der deutschen Justiz in Kontakt kam. Wehrli zitiert Mannheimers Aussage, die Islamisten seien in der Lage, «der Mehrheit einer Gesellschaft ideologisch den Stempel aufzudrücken.»
Thomas Wehrlis Fazit: «Es ist ein gefährlicher Irrtum, zu glauben, die Mehrheit der Muslime sei wegen des Islams friedlich; sie ist trotz dem Islams (sic) friedlich.» Zum Schluss erwähnt der Artikel sogar die Forderung, den Koran zu verbieten (praktischerweise als Zitat von Alice Schwarzer).
Ich finde es bedenklich, dass nicht nur die BaZ, sondern auch mein Leibblatt, der Tages-Anzeiger, auf seiner Internetseite einen derart unsachlichen Text veröffentlicht. Zweifellos ist religiöse Intoleranz ein grosses Problem. Wenn man dieses Problem journalistisch sauber darstellen will, darf man aber nicht nur mit dem Finger auf Muslime zeigen. Der Fundamentalismus in islamischen Ländern hat Wurzeln, an denen Christen nicht unbeteiligt sind – sei es die wirtschaftliche Ausbeutung der früheren Kolonien, oder die Förderung islamistischer Gruppen in militärischen Auseinandersetzungen durch die USA. Zudem verhalten sich manche Christen nicht weniger aufdringlich als die von Wehrli kritisierten Islamisten. Wikipedia zitiert Amnesty International wie folgt: «Die Christenverfolgung wird nicht zuletzt durch intensive Missionsarbeit evangelikaler Christen in der Zweiten und Dritten Welt ausgelöst.» Indem man den Islam als gefährliche Religion darstellt und die muslimischen Länder mit Nazi-Deutschland vergleicht, erweist man dem Frieden unter den Religionen einen Bärendienst.
Update 30.3. Auch in Deutschland steht Open Doors in der Kritik. Der Blogger Thomas Hummitzsch schreibt auf wissenrockt.de: «Nicht „Christen“ werden in zahlreichen islamischen Ländern verfolgt, sondern all jene, die nicht nach den in diesen Staaten herrschenden religiösen Doktrinen leben. Dazu gehören auch Christen, aber die Verfolgung trifft insbesondere jene, die für die Rechte von Frauen, Schulmädchen, Homosexuellen, Anders- oder Nichtgläubigen aufstehen. Unsere Solidarität muss allen Menschen gelten, die aufgrund der Wahrnehmung ihrer Grundrechte bedroht und verfolgt werden, ohne Blick auf ihre Konfession.»
Auch die Zahlen zur «Christenverfolgung», mit denen Open Doors hantiert, werden von Fachleuten angezweifelt: «Mehr Zurückhaltung bei der Verwendung des Begriffs „Christenverfolgung“ fordert der bayerische Oberkirchenrat Michael Martin (München). Nicht alle Verbrechen an Christen seien religiös motiviert, erklärte er am 20. März vor der Landessynode in Augsburg. Manche Beobachter verwendeten den Begriff „Christenverfolgung“, um politische Motive für Mord und Totschlag zu verschleiern.» Dies meldet die Evangelische Allianz in Deutschland.
Update 2.4. Auch andere Blogger haben Thomas Wehrlis Artikel kritisch gelesen. Der deutsche Journalist Hardy Prothmann enthüllt, von welchen Quellen Wehrli abgeschrieben hat. Blogger Peter Schlemihl hat Kontakt aufgenommen mit BaZ und TA – bisher ohne Resultat.
Update 3.4. TA und Bund haben Wehrlis Artikel gelöscht, wie der Blogger Peter Schlemihl berichtet. Auf der BaZ-Seite ist der Artikel immer noch zu sehen. Allerdings hat die BaZ die Zitate des deutschen Islamkritikers Michael Mannheimer aus dem Text gelöscht. Begründung laut BaZ: «Der Autor hat die beiden Zitate von Michael Mannheimer, die in der ursprünglichen Version des Artikels publiziert waren, zurückgenommen, da es sich bei Mannheimer um Karl-Michael Merkle handelt, der in Deutschland wegen Volksverhetzung vor Gericht steht.» Kommentar Peter Schlemihl: «Ich begrüsse die Löschung dieses einseitigen und islamfeindlichen Artikels von den Online-Portalen von “Tages-Anzeiger” und “Der Bund”. Weiter begrüsse ich die Entfernung der entsprechenden Zitate von “Michael Mannheimer” im BaZ-Artikel. Allerdings bleibt der Artikel trotz der Entfernung dieser Passagen tendenziös und islamfeindlich. Er enthält weitere unseriöse Quellen und es besteht der Verdacht, dass er teilweise von Internet-Blogs abgeschrieben wurde.»
Update 4.5. Der Medienspiegel bringt eine kenntnisreiche, ausführliche Analyse des Religionswissenschaftlers Oliver Wäckerlig. Darin enthüllt Wäckerlig u.a., dass Thomas Wehrlis schockierende Schilderung am Anfang seines Artikels (Muslime hätten einer jungen Frau ein Kreuz in den Mund gerammt) keine reale Begebenheit ist, sondern eine Szene aus einem kanadischen Horrorfilm. Das ist bemerkenswert: Wir haben also eine Zeitung, die nicht mehr unterscheidet zwischen Realität und Fiktion (Film). Laut Wäckerlig hat Wehrli das Filmzitat sowie weitere Textteile ebenfalls von Mannheimer übernommen, diese (nicht gekennzeichneten) Zitate hat die BaZ aber bis heute nicht gelöscht.
Danke für den Artikel, Herr Gossweiler.
Die Organisation «Open Doors» ist selbst ein Missionswerk, missioniert weltweit und ist deshalb selbst Teil des Problems. Aus der Sicht von «Open Doors» ist es, wenn man bei der Verteilung von Bibeln behindert oder das verboten ist, Christenverfolgung. Wenn die Christen im jeweiligen Land keine finanzielle Unterstützung erhalten, ist das nach Sicht von «Open Doors» Christenverfolgung. Absoluter Schwachsinn. Deshalb die hohen Zahlen.
Jeden Schwachsinn, den «Open Doors» zur angeblichen Christenverfolgung veröffentlicht, steht nachher weltweit in den Medien. Die haben da leider ein Monopol. Merkwürdigerweise wird bei Christenverfolgung immer «Open Doors» zitiert; es gibt glaub ich leider sonst niemanden der eine Statistik führt.
Die Artikel in Wikipedia zu «Open Doors» sind die reinsten Werbetexte. Merkwürdig, wie da Open Doors kritiklos in den Himmel gelobt wird. Da wird von den Wiki-Authoren ein Missbrauch betrieben.
Zur Kritik an «Open Doors» siehe auch http://hpd.de/node/2210
Danke für diesen Artikel. Schön, dass auch noch ein anderer Blogger über dieses Thema geschrieben hat.
Zu ergänzen gibt es noch, dass „Michael Mannheimer“ ja ein Pseudonym ist. Der gute Herr heisst in Wirklichkeit Karl-Michael Merkle und ist eine verurteilter Rechtsextremist:
http://schlemihlsblog.wordpress.com/2013/04/02/basler-zeitung-baz-islamfeindliche-hetze-basierend-auf-rechtsextremer-quelle/
Es hat sich etwas getan: Ich habe heute Vormittag eine Mail von der Online-Redaktion des Bundes erhalten: Man teilt mir mit, dass “Der Bund” keinerlei Einfluss darauf hat, welche Artikel online veröffentlicht werden. Diese Entscheidungen treffe, die Zentralredaktion des Tages-Anzeigers in Zürich.
Weiter wird mir mitgeteilt, dass man meine Bedenken betreffend diesem Artikel aber vollumfänglich teile und dass dieser Artikel auf dem Online-Portal des Bundes umgehend gesperrt wurde. Zudem habe man die Bedenken der Zentralredaktion in Zürich gemeldet.
Mittlerweile ist der Artikel beim Bund aber auch beim Tages-Anzeiger gelöscht worden. Von der Redaktion der BaZ und dem Autor Thomas Wehrli habe ich zur Zeit noch keine Antwort erhalten (Stand 11:00). Auch ist der islamfeindliche Artikel weiterhin online. Zudem zensuriert die BaZ weiterhin meine Kommentare zu diesem Online-Artikel.
Das Verrückte ist ja: Nach der Logik von Open Doors wären auch (alle!!) irakischen Muslime Opfer der „christlichen Verfolgung“ durch die amerikanischen Besatzungstruppen, natürlich auch alle Afghanen, die Palästinenser Opfer „jüdischer Verfolgung“, und die deutschen Türken wären es auch, schließlich gab es auch vor der NSU auch schon einige Morde mit ausländerfeindlichen Motiv, und Türken haben es bei der Wohnungssuche z.B. ach häufig schlechtere Karten als „reinrassige“ Deutsche.
Nach OD gibt es bei uns alleine also mindestens 3 Mio. verfolgte Muslime.
Wenn man richtig -also großzügig- zählt, käme aman bestimmt auch auf ansehnliche Zahlen verfolgter Muslime. 🙂