Im Sommer 1984 sah ich in der Jugendherberge von La Chaux-de-Fonds ein Plakat des Musée d’ethnographie Neuchâtel (MEN). Spontan sauste ich nach Neuchâtel hinunter und schaute das Museum an. Seither habe ich das MEN (fast) jedes Jahr besucht. Was dieses Museum zeigte, war in den 1980er Jahren unerhört. Mit viel Witz konfrontierte Museumsdirektor Jacques Hainard ethnologische Artefakte mit Objekten aus dem Schweizer Alltag. Mit diesem visuellen Kollisionskurs wollte Hainard an die Forderung von André Gide erinnern: «Que l’importance soit dans ton regard, non dans la chose regardée!» Chefdekorateur Jean-Pierre Zaugg inszenierte die Ausstellungsstücke mit viel Fantasie und Farbe auf poppige und peppige Art.
1984: Objets prétextes, objets manipulés
Mit dieser Ausstellung regte das Musée d’ethnographie zum Nachdenken an über unseren Umgang mit Objekten: Wie gelangt ein ethnologisches Objekt ins Museum? Aber auch: Wie gelangen alltägliche Objekte in unsere Wohnungen? Ich war tief beeindruckt. Nie zuvor (und nie seither) habe ich eine derart spannende Mischung aus Kunstgegenständen und Objekten des Alltags in einem Museum gesehen. Der Ethnologe Hainard setzte Lautréamonts Definition von Schönheit – «beau comme la rencontre fortuite sur une table de dissection d’une machine à coudre et d’un parapluie» – fantasievoll in seinem Museum um.
1986: Le mal et la douleur
Krankheiten und Katastrophen – ein unerschöpfliches Thema für Ethnologen. Jede Gesellschaft und jede Epoche hat ihre eigenen Ideen und Techniken, um sich vor Schmerzen und Unglück zu schützen. Jacques Hainard ging das Thema auf seine Art an – etwa indem er einen Freiburger Beichtstuhl einer tibetischen Dämonenfalle gegenüberstellte. Die Ausstellung begann mit der Ursünde und umfasste auch Exponate wie ein Modell eines elektrischen Stuhls und ein Autowrack. Solche Gegenstände sieht man auch heute nur selten in ethnologischen Museen.
1990: Le trou
Die Ausstellung «Le trou» («Das Loch») war die abgefahrenste Schau, die das Musée d’éthnographie jemals veranstaltet hat. Mit Ethnologie im klassischen Sinn hatte das nichts mehr zu tun. «Wie der Held oder die Heldin der Geschichte, die man ihm erzählt» sollten sich die Museumsbesucher fühlen, so Jacques Hainard. Die Ausstellung verzichtete auf Texte oder auf Legenden. Die Besucher erhielten dafür ein Leporello, betitelt als «Gebrauchsanweisung». Ein Kino, eine Küche, ein Badezimmer, ein Keller bildeten die Bezugsrahmen, in denen Hainard seine Assoziationen spielen liess. «Mijoter ses chimères», «passer sur d’autres rives» oder «camoufler ses angoisses» lauteten die anspielungsreichen Titel der einzelnen Ausstellungsteile. Brueghels «Jüngstes Gericht» stand neben einer Rattenfalle, ein Briefkasten und andere «objets à fente» neben einem mythischen Fisch aus Japan, dem Namazu, der die Reichen dazu zwingt, Geld zu scheissen. Das Leporello zitierte dazu Roland Barthes und Michel Serres. Höhepunkt dieser Schau war das «Hôtel au Minotaure», wo man durch halb geöffnete Türen «die durcheinandergewürfelten Reste des Lebens» sehen konnte. Das Ganze war eine vollkommen poetische Umsetzung von Themen wie Musik, Zeit, Kindheit, Tod, Liebe oder Religion. Der letzte Satz im Leporello: «Le film est fini! L’aventure continue dans votre tête.»
Nach dieser fantastischen Ausstellung konnte es nur bergab gehen. Der Neuenburger Stadtrat dankte Jacques Hainard für seine international einmaligen Ausstellungen, indem es das Budget des Museums für 1991 kurzerhand strich. Dennoch konnte Jacques Hainard in den folgenden Jahren weiterhin spannende Ausstellungen machen zu Themen wie Marx 2000, La différence oder Natures en tête. Vor ein paar Jahren wurde Hainard pensioniert. Der neue Museumsdirektor Marc-Olivier Gonseth führt das MEN in einem ähnlichen Stil weiter. Doch Jacques Hainards «Muséologie de rupture» mit seiner wilden Mischung des Trivialen und des Heiligen bleibt für mich unerreicht.
Fotos: Postkarten Musée d’ethnographie Neuchâtel / Zeitungsausschnitt Journal de Genève