Ich kann mir fast nicht mehr vorstellen, wie wir ohne Twitter gelebt haben. Hat sich vermutlich ungefähr so angefühlt wie ein Leben ohne Trams und Eisenbahnen, oder wie das Leben vor der Erfindung der Zahnpasta. Sicher ist Twitter manchmal nützlich, weil es den Zugang zu Zeitungsartikeln verschafft, die ich sonst nicht gesehen hätte. Twitter ist auch unterhaltsam. Es zeigt Meinungen von Leuten, die ich sonst nicht kennen gelernt hätte.
Dennoch äussern Twitter-User Zweifel am Nutzen von Twitter. Die FAZ-Bloggerin Katrin Rönicke schrieb diese Woche: «Twitter ist wie die DDR.» Rönicke erklärt im Text, warum sie nicht mehr twittert: «Twitter holt aus uns (mich eingeschlossen) das Schlechteste heraus.»
Das klingt einigermassen dramatisch. Rönicke begründet ihre Twitter-Kritik wie folgt: «Auf Twitter fing ich selbst an Menschen nach dem Mund zu reden ohne es wirklich zu realisieren. Selbst wenn ich von einer Meinung oder Aussage überzeugt war, habe ich sie oft für mich behalten, weil mir klar war, dass es nicht nur Kritik geben würde, sondern moralische Entwertung.» Die Autorin beobachtet eine problematische Eigenheit des Kurznachrichtenkanals: Buzzwords wie «fail» werden vom typischen Twitterer dazu verwendet, «um zu den Gerechten und Guten zu gehören.» Dieses Verhalten habe sie immer stärker genervt.
Mehr noch: Es habe sie an Verhaltensweisen erinnert, die Katrin Rönicke in ihrer Jugend in der DDR erlebt hat: «Dieses Zelebrieren der eigenen moralischen Überlegenheit zum Beispiel. Sich selbst durch größere Gerechtigkeit über die anderen erheben.» Deshalb sei sie «von Twitter in die Freiheit geflüchtet.» Doch selbst als Twitter-Abstinentin ist Rönicke nicht frei von den fragwürdigen Auswirkungen des Kurztext-Kanals: «In Radio-Sendungen und TV-Debatten werden Meinungen aus Twitter schon jetzt direkt vorgelesen. In Echtzeit. Was „trendet“ gilt als relevant, ohne dass die Mechanismen hinter dem „Trend“ hinterfragt würden. Wer hinterfragt schon viele Klicks?» Das Fazit von Katrin Rönicke:
«Für mich ist das Politische auch immer konfliktuell – aber das ist auf Twitter nicht wirklich möglich. Dort befindet man sich schneller in den Kategorien von Moral und moralischer Abwertung: Eine andere Meinung ist dann nicht nur eine andere Meinung, sondern eine verwerfliche. Eine andere Ansicht kann neben der eigenen kaum ausgehalten werden, ohne ein #fail dahinter zu setzen. Wer abweicht, wird so denunziert. Die Gerechten feiern sich hiernach selbst.»
Auch bei Schweizer Twittos wurde Rönickes Text diskutiert. Tenor: Der Vergleich mit der DDR sei «an den Haaren herbei gezogen.» Der Lehrer und Blogger Philippe Wampfler tat den Text gar als «Blödsinn» ab. Via Twitter natürlich. In seinem Blog argumentiert Wampfler ähnlich oberflächlich: Twitter sei «nur ein Werkzeug», das «immer auch missbraucht werden» könne.
Mit ihrer Twitter-Kritik bestätigt Katrin Rönicke jedoch Phänomene, die ich immer wieder beobachtet habe. Zwar habe ich nicht vor, mich bei Twitter abzumelden. Aber ich twittere weniger. Denn bei Twitter sehe ich Abläufe, die mich schon bei diversen Internet-Foren gestört haben. Bei diesen Foren, egal zu welchem Thema, bildet sich immer eine Community, die sich gegenseitig selber bestätigt und die nur eine Einheitsmeinung gelten lässt. Wer in einem beliebigen Punkt nicht mit der Einheitsmeinung einverstanden ist, wird kurzerhand rausgemobbt. Das habe ich mehr als einmal erlebt. Wenn ich Kinder hätte, würde ich ihnen deshalb empfehlen: Haltet euch aus Internet-Foren raus.
Ich meldete mich mit der naiven Erwartung bei Twitter an, dass Twitter ein offenes Medium sei, das nicht so einfach wie ein Forum von einer kleinen Gruppe Gleichgesinnter in Beschlag genommen werden kann. Mit der Zeit lernte ich, dass das nicht so ist. Die von Katrin Rönicke erwähnten Mechanismen sorgen dafür, dass auch bei Twitter selten eine offene Diskussion entsteht. Zwar können Millionen von Usern bei Twitter mitmachen. In Tat und Wahrheit wird jede Diskussion zu einem bestimmten Thema auch auf Twitter von einer Handvoll Gleichgesinnter bestimmt.
Zum Beispiel das Thema Journalismus. Kürzlich beschied mir die Nummer 1 im Twitter-Ranking der Schweizer Journalisten in schnarrendem Ton: «Die Debatte über ihre Grundlagenirrtümer mag ja nicht nur ich nicht mehr führen.» Vermutlich ist Nummer 1 im Alltag ein umgänglicher Mensch. Bevor ich aber mit der halben Journalistenzunft auf Kriegsfuss stehe, weil wir über ein Medium kommunizieren, das problematische Verhaltensweisen fördert, wie Katrin Rönicke gezeigt hat, verzichte ich lieber auf weitere Twitterdebatten dieser Art.
Seit ich weniger twittere, bin ich zwar im Twitter-Journalisten-Ranking von Rang 30 auf Rang 37 abgerutscht. Aber das ist mir herzlich egal.
Natürlich kann man sagen, was man will. Katrin Rönicke hat sehr plausibel erklärt, was dann geschieht. Es lohnt sich, darüber nachzudenken. Es geht nicht darum, ob sich die eigene Meinung durchsetzt oder nicht, oder ob andere mitdiskutieren wollen oder nicht – es geht darum, ob eine Diskussion überhaupt möglich ist unter diesen Umständen.
Andere Frage: Ist Twitter überhaupt das geeignete Forum für eine Diskussion? Mir fällt zwar auch auf, dass es zunehmend dazu genutzt wird, möglichst unbeirrt und nach twittermassstäben «laut» einen Standpunkt in die Welt hinauszuposaunen und seine Richtigkeit an der Zahl der Retweets und beipflichtenden Unbekannten zu messen – aber ehrlich gesagt interessiert mich die *Meinung* mir wildfremder Menschen genau gar nicht, sondern allenfalls würde sie mich im Zusammenhang mit *Argumenten* interessieren.
Gerade die aber – und die Links auf längere Ausführungen, Fakten, Blogpostings, Zeitungsartikel, welche sie untermauern – werden zusehends seltener. Die Filterbubble trägt ihres dazu bei, dass man sich um andere Sichtweisen immer mehr foutiert, die vielgelobte «Demokratisierung der Medien» schlägt um in eine Polarisierung ihrer Nutzer, bis sich am Ende auf dem Forum zwei Demonstrationsgruppen mit grossen Plakaten gegenseitig mit ihren «Meinungen» niederzuschreien versuchen.
In den USA ist diese Entwicklung, begünstigt von der Zwei-Parteien-Politik und der traditionellen Gruppierung von Gesellschaftsen mit radikalen und unterschiedlichen Moralvorstellungen, bereits sehr weit vorangeschritten. Ich hätte gehofft, dass sich in vermeintlich konsens- und diskussionsorientierteren Kulturen eine andere Tendenz abzeichnen würde, aber inzwischen zweifle ich auch daran.
Meine persönliche Reaktion: Ich folge nur Twittereren, die Mehrwert in Form weiterführender Links, echten Nachrichten und Fakten liefern. Und versuche, selber genau das zu tun.
Danke Peter für den sehr guten Diskussionsbeitrag. Der Unterschied zwischen Meinungen und Argumenten ist wichtig, damit bin ich sehr einverstanden.
Foren werden meist von irgend einer Community oder zu irgend einem Leitthema erstellt. Dass da schnell das Bedürfnis nach Behaglichkeit und der Hang zur Selbstbestätigung dominieren, muss nicht erstaunen.
Bei Twitter kann sich aber jeder seinen eigenen Debattierkreis zusammenstellen. Aus meiner Sicht lebt Twitter geradezu davon, dass man auch über gegenteilige Ansichten stolpert.
«Bei Twitter kann sich jeder seinen eigenen Debattierkreis zusammenstellen»: In der Theorie stimmt das schon. Praktisch läuft man aber auch im theoretisch unendlich grossen Raum namens Twitter immer wieder den gleichen Nasen über den Weg.