Die «Milchschuld», die man nie zurückzahlen kann

Genau 1580 Liter Muttermilch bezieht ein durchschnittliches Kind in den ersten drei Lebensjahren von seiner Mutter: Das rechnete ein chinesischer Buddhist aus. 1580 Liter, das ist eine erstaunlich grosse Menge. Mit dieser Zahl wollte der chinesische Autor zeigen, wie gross die Schuld der Kinder gegenüber ihren Müttern ist. Und wie gross ihre Dankbarkeit sein müsse. Auch in der Türkei stellte man ähnliche Überlegungen an. In diesen Kulturkreisen war man sich einig:

«Diese Milchschuld oder die grundsätzliche Schuld gegenüber den Eltern zurückzuzahlen war einfach unmöglich. Würde man Juwelen vom Boden bis zum 28. Himmel aufstapeln, schrieb ein buddhistischer Autor, so würden sie nicht annähernd genügen, um den Wert der elterlichen Fürsorge aufzuwiegen.»

Deshalb war es eigentlich egal, wie viele Liter Muttermilch ein Säugling tatsächlich trank. Wichtig war vielmehr die Vorstellung, dass man die Schuld gegenüber den Eltern nicht zurückzahlen kann. Denn ein Tausch ist nur möglich zwischen zwei gleichwertigen Lebewesen, aber nicht, wenn die Beziehung so ungleich ist wie zwischen einer Mutter und ihrem Kind.

Oder zwischen einem Menschen und den Göttern. Auch hier bestand nach der Vorstellung der chinesischen Buddhisten eine Schuld, die man niemals zurückzahlen kann. Die Opfer für die Götter dienten nicht der Rückzahlung der Schuld, sondern sollten nur ausdrücken, dass die Rückzahlung unmöglich ist.

Das schreibt David Graeber in seinem überaus spannenden Buch «Schulden». Es gab jedoch eine Möglichkeit, die nicht rückzahlbare Milchschuld zu begleichen: mit einer Spende an ein buddhistisches Kloster.

David Graeber: «Schulden. Die ersten 5000 Jahre», Klett-Cotta 2012

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