Wenn Männer über #aufschrei diskutieren

redhotridinghood

Die Debatte um das Twitter-Phänomen #aufschrei nimmt zunehmend absurde Züge an. Ein wachsender Teil der Diskussionsbeiträge wäre zum Wiehern komisch, wenn das eigentliche Thema nicht so ernst wäre:

– Der Lehrer Philippe Wampfler echauffiert sich in verschiedenen Kommentarspalten und Blogs darüber, dass die Zeitung 20 Minuten statt weibliche Expertinnen zwei männliche Experten befragt hat. Damit hat Wampfler eigentlich nicht mal unrecht, allein sein übersteigerter Furor mutet seltsam an. Gemessen an seinen eigenen strengen Massstäben, dürfte sich Wampfler niemals so weit aus dem Fenster lehnen, denn er ist genauso wenig weiblich wie die von 20 Minuten befragten Mark Balsiger und Marcel Bernet.

Andrea Masüger, CEO der Südostschweiz Medien (schon wieder ein Mann), schreibt im Medienspiegel, die Medien würden «einer Twitter-Kakofonie Relevanz attestieren, anstatt zu hinterfragen und einzuordnen.» Sicher hat Masüger recht: Unter dem Hashtag #aufschrei finden sich tatsächlich «die unterschiedlichsten Elemente bis hin zum blanken Unsinn». Wie könnte es anders sein bei Twitter. Das ist aber noch kein Grund, um abzustreiten, dass das Thema wichtig ist.

– In der Kommentarspalte des Medienspiegels wird eine halbe Generation an den sozialmedialen Pranger gestellt – die älteren Männer. Die sind offenbar, so meinen einige Kommentar/innen, zu einem grossen Teil sexistisch angehaucht oder sogar total durchseucht. Ob das Kollektiv der jüngeren Männer in dieser Hinsicht so viel besser dasteht, konnte bisher niemand klar beweisen. Das hindert einige Kommentator/innen nicht daran, aus der Sexismus-Debatte kurzerhand einen Generationenkrieg zu machen.

– Ebenfalls in der Kommentarspalte des Medienspiegels schreibt der Journalist Christof Moser (nochmals ein Mann, wenn auch ein jüngerer), er habe «die klügsten Texte zu #aufschrei nicht in Zeitungen gelesen, sondern in Blogs.» Es erstaunt mich, dass jetzt auch ein Journalist glaubt, Blogs seien den professionellen Medien grundsätzlich überlegen, wenn es darum geht, ein neues Medienphänomen zu analysieren. Wo bleibt da der Berufsstolz, frage ich mich. Pauschale Rundumschläge dieser Art waren bisher eine Spezialität von Bloggern. Jedenfalls lässt Moser die Tatsache ausser acht, dass #aufschrei nur deshalb entstehen konnte, weil ein Printmedium das Thema Sexismus aufgriff.

– Dessenungeachtet behauptet auch Internet-Apostel Sascha Lobo auf Spiegel Online: «#aufschrei ist der Beweis, dass ein gesellschaftliches Großthema in klassischen Medien nach dem Gefühl sehr vieler Menschen zu selten oder aus der falschen Perspektive behandelt wird.» Nochmals: es war der Stern, der das Thema zuerst aufgriff – keine Twitterin und kein Blogger.

– Sogar der Blogger Bugsierer, der sonst nicht mit frauenfeindlichen Sprüchen spart in seinem Twitterkanal, findet #aufschrei eine tolle Sache. Weils ein Social-Media-Phänomen ist, kanns für diesen Internet-begeisterten älteren Herr nur eine tolle Sache sein – ganz unabhängig vom Inhalt der Debatte. Selten wurde der berühmte Satz «Das Medium ist die Botschaft» dermassen virtuos ad absurdum geführt.

– Die klügste Analyse las ich nicht in einem Blog, sondern in einer altmodischen Zeitung aus Papier. Im Tages-Anzeiger schreibt Jean-Martin Büttner, schon vor der Erfindung der Sozialen Medien sei über «klebrige Politiker» geschrieben worden. Die Liste ist eindrücklich: sie beginnt bei Bill Clinton und hört bei DSK nicht auf: «Alle müssen gewärtigen, dass Person und Vorwurf unauflösbar zusammenkleben. Und bei jeder Nennung wieder gemeinsam auftauchen. Bis zu ihrem Nachruf. Und darüber hinaus.»

Illustration: Tex Avery «Red Hot Riding Hood» (1943)

Über agossweiler

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Eine Antwort zu Wenn Männer über #aufschrei diskutieren

  1. achtellorbeerblatt schreibt:

    Danke dafür. Ja, die Verwirrung ist groß. Gegenfrage: Kann es nicht sein, dass das gar keine „Mann contra Frau“-Diskussion ist? Sondern „Unten gegen Oben“ in einer neuen Variante. Scheint mir so. Ich lese die Artikel inzwischen nicht mehr, weil es immer um den Machterhalt geht, der angeprangert wird. Tja, richtig ist: 95 Prozent aller Führungsposten sind in männlicher Hand. Falsch aber ist: 95 Prozent aller Männer sind in Führungspositionen.
    Daher ja auch die männliche Empörung. 80 Prozent der Männer sind anständig und machtlos. Und sowas von emanzipiert. Die restlichen 20 Prozent versauen den Ruf.
    Nicht?

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