Eigentlich wollte die Empfangsdame einer schottischen Ölfirma letzte Woche nur ihre Kollegen über die Ankunft des Sandwich-Kuriers informieren. Doch ohne es zu merken, sandte sie der ganzen Belegschaft gleichzeitig einen Mailwechsel, den sie mit ihrem Verlobten geführt hatte. Der Mailwechsel enthielt pikante Botschaften wie «I loved our session last night… you were very very wet!» Damit nicht genug – die Mails wurden bald genüsslich via Twitter einer breiteren Öffentlichkeit zugeführt, mit dem Hashtag #sandwichvan. Jetzt haben die Empfangsdame und ihr Verlobter ihre Jobs verloren.
Dazu passt der brillante Artikel des deutschen Medienwissenschaftlers Bernhard Pörksen mit dem Titel Die digitale Pubertät, der am Donnerstag im Tages-Anzeiger erschien. Bereits im November hatte der Kulturbund des TA einen ebenso lesenswerten Text von Pörksen veröffentlicht, in dem er die «falsche und gefährliche Rede vom Untergang der Printmedien» kritisiert hatte. Warum jetzt Pubertät? Pörksen erklärt:
«Wir befinden uns in einer Phase der mentalen Pubertät im Umgang mit den Neuen Medien und können uns nicht vorstellen, welche möglichen Folgen unsere eigenen publizistischen Experimente womöglich besitzen.»
Alles, was im Netz publiziert wird, kann Folgen haben, und zwar nicht nur angenehme Folgen:
«Mal sind es Handyvideos, die im Extremfall ein Kriegsverbrechen dokumentieren, dann wieder Spottbilder irgendeines Prominenten, mal wird der Blog einer Schülerin, die ihr furchtbares Schulessen vor aller Augen seziert, bekannt. Dann wieder entflammt ein Shitstorm gegen eine Firma, die aus guten oder schlechten Gründen im Verdacht steht, sich falsch zu verhalten.»
Die verschiedenen Twitter- und Facebook-Skandalen und -Skandälchen («Kristallnacht»-Tweet usw) zeigen, dass Pörksens Befund richtig ist. Und niemand, der sich in «sozialen Medien» bewegt, ist vor einem Imageschaden geschützt, wie Pörksen zu bedenken gibt:
«Gelegentlich, in einem stillen Moment, erinnern wir uns an eigene Ausfälle, an deren Veröffentlichung glücklicherweise niemand Interesse hatte.»
Für Pörksen hat die Tatsache, dass heute jede und jeder ein «Enthüller eigenen Rechts» sein kann, verschiedene Folgen: Der Medienwissenschaftler konstatiert «einen neuen Geschwindigkeitsrausch» und «eine neue Ängstlichkeit, eine verzage Verkrampftheit»:
«Man will doch nicht derjenige sein, der die digitale Normpolizei und den nächsten Shitstorm provoziert.»
Man könnte noch anfügen: Die dritte Folge ist konformes Verhalten – weil der Diskurs in «sozialen Medien» und Internetforen oft von einer Gruppe Gleichgesinnter dominiert wird. Und warum nennt Pörksen unseren Umgang mit «sozialen Medien» pubertär?
«Auf ein Leben im Wirkungsnetz plötzlich aufschäumender medialer Aufmerksamkeitsexzesse ist niemand wirklich vorbereitet. Denn dieses Leben braucht ein anderes Gespür für Netzwerkkausalität und eine Ahnung von den prinzipiell gewaltigen Wirkungsmöglichkeiten, die man eben auch als Zehnjähriger besitzt, wenn man seine Spass- und Spottvideos ins Netz stellt.»
Leider bleibt Pörksen vage, wenn er über Lösungen dieses Dilemmas schreibt. Er erwähnt nur einen «noch unverstandenen Bildungsauftrag, der an den Schulen und Universitäten die Lehrpläne verändern müsste.» Ob das genügt? Für Pörksen ist klar: «Die Phase der mentalen Pubertät kann nur einem reiferen Gebrauch weichen, wenn jeder versteht, dass er selbst zum Sender geworden ist und darüber entscheidet, was öffentlich wird – die böse Botschaft, die kluge Idee, der irrelevante Quatsch.»
Die Entscheidung, was öffentlich wird, überfordert immer wieder Sender – und wird auch in Zukunft immer wieder mal den einen oder anderen Sender überfordern.