Thesen nachrecherchieren

Brillant brachte Constantin Seibt in einer Rede und in seinem Blog Deadline das Problem der Weltwoche auf den Punkt:

«Die Themenwahl wird extrem berechenbar: Die eskalierende Finanzkrise – existiert nicht; Fukushima – war keine Katastrophe; Berlusconi und Putin – sind ehrenwerte Männer; das Weltklima – kühlt sich ab; Frauen – sind das regierende Geschlecht; Radioaktivität – ist gesund. Die Folge: Sie werden unglaubwürdig. (…) Dadurch, dass gar nichts anderes in dem Blatt stehen kann, ist ihr Dynamit nass geworden: Man hat nun bei jeder These in der «Weltwoche» das Gefühl, man müsse sie erst persönlich nachrecherchieren. Und dazu fehlt einem die Zeit. (…) Durch ihre Strategie des konstanten Anti-Mainstreams ist die ganze Zeitung zur Glaubenfrage geworden: Man glaubt ihr alles oder nichts. (…) Mit diesem Sprung von Informationsmedium zur Glaubenssache verkörpert sie nicht nur das Gegenteil von Kritik. Sondern ist auch das Gegenteil von Service für die Demokratie.»

Aus Gründen, die sich mir nicht erschliessen, bot die Medienwoche dem «Betroffenen» (weil angehenden Weltwoche-Redaktor) Markus Schär ein Podium für eine Antwort. Der Text ist durchsetzt mit allerlei Verbalinjurien (Tages-Anzeiger-Journalisten bezeichnet Schär als «Redaktionsbeamten», Kritik an seiner Arbeit als «wohlfeiles Protestgeheul», Kritiker der Hildebrand-Kampagne der Weltwoche als «Gutmenschen»). Die fundierte und wohlformulierte Kritik Constantin Seibts bezieht Schär auf seine eigene Arbeit, tut sie kurzerhand als «Blödsinn» ab und unterstellt Seibt im Gegenzug mangelnde Recherche:

«Schrieb ich also Geschichten, «bei denen man das Gefühl hat, man müsse sie erst persönlich nachrecherchieren», wie Seibt behauptet (der bekanntlich keinen gesteigerten Wert auf Recherche legt)? Blödsinn, die aufwendig recherchierten Fakten missfielen, deshalb musste man sie mit wohlfeilem Protestgeheul wegen der Wertungen übertönen.»

Die meisten von Markus Schärs Geschichten kann ich genausowenig wie Constantin Seibt nachrecherchieren. Mir fehlt dafür die Zeit und auch das Hintergrundwissen. Nur einmal fiel mir der Unterschied zwischen Fakten, die ich mit eigenen Augen gesehen hatte, und den Behauptungen von Markus Schär auf. Denn zufälligerweise verstehe ich ein bisschen etwas vom angesprochenen Thema – dem Eisenbahnverkehr. Im Kommentarteil des Medienspiegel versuchte Schär, die Gewerkschaft Unia zu diskreditieren, die sich über eine, nun ja, undichte Baustelle beschwert hatte:

«Nach zwei Monaten als betroffener Pendler stellte ich fest, was man mit gesundem Menschenverstand von Anfang an hätte feststellen können: dass auf den betroffenen Gleisen ausschliesslich IR-Züge mit geschlossenen Toiletten verkehren, dass ich schon vorher bei offenen Toiletten während dreissig Jahren als Pendler nie Fäkalien auf den Gleisen gesehen hatte und dass es physikalisch unmöglich ist, dass Fäkalien durch den Schotter (und die Decke, die es ja zwingend braucht) tropfen.»

Ich machte Markus Schär darauf aufmerksam, dass seine Darstellung in verschiedenen Punkten offensichtlich nicht zutrifft:
✸ Als Pendler fuhr ich im letzten Winter täglich auf den betroffenen Gleisen nicht mit IR-Zügen, sondern mit uralten RBe 4/4-Triebwagen und noch älteren Einheitswagen aus den 60er Jahren in den Hauptbahnhof ein, die alle Plumpsklos hatten.
✸ Braune Häufchen und WC-Papier sieht man an jedem S-Bahnhof neben den Schienen. Und wer in den Bahnhof Museumstrasse runtersteigt, dem weht manchmal dezentes Urinaroma entgegen.
✸ Es hatte an der betreffenden Stelle eben, da es eine Baustelle war, weder Schotter noch fixe Decke, sondern nur durchlässige Metallverstrebungen, bevor die SBB die Stelle mit Plastikplatten halbwegs abdichteten.

Markus Schärs Antwort, als ich ihn auf die Fakten hinwies: «Danke für die Belehrung. Ich vertraue, wie seit dreissig Jahren, auch fürderhin meinem gesunden Menschenverstand, meiner WAHRnehmung (sic) und meinen Recherchen.»

Offenbar hat der übermächtige Wunsch, der Gewerkschaft eins reinzubrennen, die «WAHRnehmung» des Autors getrübt. Jedenfalls gab der Artikel in der Medienwoche Anlass zu intelligenten Kommentaren. Die Arbeitshaltung der Weltwoche charakterisierte ein Medienwoche-Leser wie folgt:

«Wer davon redet, eine Schlagseite korrigieren zu wollen, gibt selbst Objektivität und Sachlichkeit auf. Das ist zulässig, entspricht aber nicht dem von Köppel angestreben knallharten Recherchejournalismus.»

Über agossweiler

Journalist
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