Dank meiner Westschweizer Twitter-Connections entdeckte ich die hervorragende Radiosendung 120 Secondes schon einige Tage vor dem Tagi-Artikel. Kam aber wegen Zeitmangels bisher nicht zum Bloggen. 120 Secondes ist ein hervorragendes Beispiel, um die Vorzüge des Westschweizer Radios zu beschreiben. Es gibt natürlich viele andere Beispiele, auch im Fernsehen.
Jeden Morgen lädt der Radiomoderator Vincent Veillon einen Gast ein, um sich zwei Minuten lang mit ihm zu unterhalten über ein aktuelles Thema. Der Gast wird jedesmal vom Schauspieler Vincent Kucholl gemimt. Er hat das Talent, ganz verschiedene Charaktere und unterschiedliche Sprechweisen zu kreieren. Imitieren wäre das falsche Wort. Denn Kucholl ahmt keine real existierenden Personen nach, sondern stellt real existierende Typen von Personen dar. Das macht die Sendung viel spannender als die ähnliche Sendung «Zum Glück ist Freitag» auf DRS3. Sicher kann Fabian Unteregger Mörgeli und Köppel gut imitieren, aber wenn sich das Konzept der Sendung darauf beschränkt, wird sie naturgemäss bald langweilig. Hier sind die Romands viel kreativer und spielerischer. Jede Ausgabe von 120 Secondes wird gleichzeitig gefilmt und kann als Video auf der Internetseite der RTS angeschaut werden.
Vincent Veillon lädt immer wieder gerne mal einen Deutschschweizer Pressesprecher in die Sendung ein. Der lustigste Pressesprecher war Matthäus Wechlin vom VBS. Er sprach über die amtlich empfohlenen Schutzmassnahmen «dans le cas improbable d’un pti‘ probleme, d’un pti‘ incident» in einem AKW. Sein Deutschschweizer Akzent ist perfekt intoniert. Perfekt ist auch die Art, wie Matthäus Wechlin neurotisch im Radiostudio umher linst. Die Sendung lebt aus dem Kontrast zwischen der betont nüchtern-professionellen Sprechweise von Vincent Veillon und den barocken Persönlichkeiten, die Vincent Kucholl darstellt:
Moderator: «Alors, premier point, écouter la radio.»
Matthäus Wechlin: «Vouiii, ça c’est pour se détendre, hehehe-chr-chr. Non, je plaisante. C’est pour écouter les informations, savoir si l’accident il est grave 0ù pas grave. S’il est un peu grave, c’est aussi pour se détendre, hä. La musique ça permet un peu de déschtresser, hä.»
Im Verlauf der Sendung bringt es der brave Pressesprecher fertig, im Radiostudio das pure Chaos zu veranstalten.
Eine andere Figur, die immer wieder im Programm vorkommt, ist der cholerische Walliser Bauunternehmer Stève Berclaz. Er redet in einem wahnsinnig breiten Walliser Dialekt, der so vermutlich nur noch in abgelegenen Bergdörfern gesprochen wird, falls überhaupt. Stève Berclaz befürwortet die Unabhängigkeit des Kantons Wallis. Noch lieber spricht er aber über seine Metal-Band Black Lion Genocide, bei der er Bassgitarre spielt. In jeder Sendung, zu der er eingeladen wird, schmuggelt er Werbung für die neue Platte seiner Metal-Gruppe ein, sehr zum Missfallen des Moderators:
Stève Berclaz: «Bon. Maintenant tu passes un extrait de l’album de Black Lion Genocide. Je ne suis pas venu ici pour rien.»
Moderator (schaut auf die Uhr): «Je suis désolé, on n’a plus le temps.»
Stève Berclaz: «Quoi, on n’a plus le teng. Tu prends le teng. Sinon j’ai la grooooosse colère qui monte!»