Online-Journalismus

Selbstverständlich gibt es Journalistinnen und Journalisten, die für Online-Medien arbeiten und die ihren Job ernst nehmen. Ein positives Beispiel ist Michèle Binswangers Text über den Twitterer Dailytalk. Es gibt aber eine Sorte von Texten, die erst seit dem Aufkommen des Internets existiert und die quantitativ zunimmt wie Fruchtfliegen an einem warmen Sommertag. Diese Sorte von Texten zeichnet sich aus durch das Bemühen um grösstmögliche Aufmerksamkeit bei kleinstmöglichem Aufwand bei der inhaltlichen Auseinandersetzung mit dem Gegenstand des Textes.

Heute sind mir gleich zwei Beispiele untergekommen. Zuerst hat Ronnie Grob ein Interview mit Roger Schawinski in der Medienwoche publiziert. Das Echo in der Twittersphäre ist euphorisch: «Starkes Interview», meinte einer, «endlich jemand, der Schawinski nicht mit Samthandschuhen anfasst», kommentierte ein anderer Twitteur.

Neues über Roger Schawinski erfahre ich im Interview nicht. Auf alle Fragen mit kritischer Intention formuliert Schawinski wohlklingende Antworten, und der Interviewer gibt sich ausnahmslos damit zufrieden, er hakt kein einziges Mal nach. Im Gespräch wird einmal mehr die Sympathie des Interviewers für die SVP deutlich, wenn Ronnie Grob Schawinski vorwirft, er habe «nur die negativen Seiten und die Schwächen» des Interviewpartners Gerhard Blocher «beleuchtet». Meine Güte Ronnie, so funktioniert ein kontroverses Interview nun mal, es ist kein Schmusestündchen und darf es nicht sein.

Was mich am meisten stört bei dem Frage-und-Antwort-Spiel, ist die kunterbunte Themenmischung, die der Interviewer vorgibt: Mal kritisiert er Schawinskis Interviewstil (wobei er ausschliesslich sattsam bekannte, hundertmal wiederholte Kritikpunkte wiederkäut), dann schlägt er einen schwindelerregenden Haken und spricht die Harmoniebedürftigkeit der Schweiz an, um flugs zum Thema «Einfluss von PR im Schweizer Journalismus» zu wechseln und bei der nächsten Frage Roger zu seinem Verhältnis zum Staat abzufragen. Ein Thema, eine Frage – eine denkbar unergiebige Interview«technik». Der Text erweckt den Eindruck, dass es bei der Medienwoche weder Qualitätskontrolle noch Reflexion über das journalistische Handwerk gibt. Schade. So kann man die Lücke, die die Abschaffung des Medienjournalismus in den professionellen Zeitungen hinterlässt, nicht füllen. Jemand sollte Ronnie Grob mal den Unterschied zwischen einem Frage-und-Antwort-Spiel (= Aneinanderreihung von Fragen und Antworten) und einem Interview (= Gespräch, Dialog) erklären.

Weniger Beifall gab es heute bei Twitter für die Kolumne «Der Quotenmann» von Reda El Arbi im Frauen-Onlinemagazin Clack. In der sich der Autor beschwert über «Übermütter, die ihre Kinder am Liebsten bis zur Lehrabschlussprüfung stillen würden». Ich habe auch beim zweiten Lesen nicht verstanden, um was es in dem Text eigentlich geht. Ausser, dass der Autor offenbar Lust hatte auf einen pauschalen Rundumschlag: «Durch die intensive Mutterbindung fallen dann die mit dem Partner im Vorfeld vereinbarten Betreuungspläne unter den Tisch. Die Mamis können ihre Kinder nicht mehr abgeben.» Welche Mamis? Der «Höhepunkt» der Kolumne ist der Begriff «Stillnazi». Damit sind Mütter gemeint, «die andere Frauen dafür verurteilen, weil sie ihr Kind nicht dauernd an den Nippeln wollen.» Wer macht das? Kurz, die Kolumne liest sich wie das Gepfutter frustrierter, sich unverstanden fühlender Männer am Stammtisch. Die Botschaft des Autors ist schleierhaft, der Erkenntnisgewinn für Leserinnen und Leser gleich null. Auch hier entsteht der Eindruck, dass die Qualitätskontrolle beim Onlinemedium Clack fehlt. Wahrscheinlich eine Frage der finanziellen Ressourcen.

Kurz: Es stimmt einfach nicht, dass das Medium keinen Einfluss hätte auf die Qualität der Inhalte. Bevor das Internet lanciert wurde, hatten so grottenschlechte Texte keine Chance auf eine Publikation.

Über agossweiler

Journalist
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6 Antworten zu Online-Journalismus

  1. Reda El Arbi schreibt:

    Ja, früher war alles besser, sogar die Texte. Heute versteht man als gestandener Journi nicht mal mehr, was diese Onliner schreiben, Himmelhergottsdonner. Was ist nur mit dem Qualitätsjournalismus passiert? Es ist zum Weinen. Zum Glück schreib ich nicht für Journis, sondern für die LeserInnen.

  2. agossweiler schreibt:

    Ich verstehe, dass es in der Kolumne irgendwie um die Verteidigung von Müttern geht, die nicht stillen wollen. Aber der Text ist so vollgepackt mit schrillen, abwertenden Begriffen («Mutterwahn», «Muttertiere», «Übermütter», «Stillnazis» usw) und mit nicht belegten Vorwürfen («fallen die Betreuungspläne unter den Tisch», «bin überzeugt, dass Kinder solcher Mütter mit 14 mit Rauchen beginnen» usw), dass der Eindruck der verbalen Kraftmeierei dominiert. Als Satire könnte man das bringen, wenn eine Prise Humor reingemixt würde. Aber das war offenbar nicht das Ziel, und die Vorwürfe an die «Mutterkühe» sind dermassen überzeichnet, dass man am Schluss nicht mehr versteht, ob hier das Stillen an sich kritisiert werden soll oder die Mütter, die nicht-stillenden Müttern Vorschriften machen wollen oder ob im Text traumatisierende Erlebnisse verarbeitet wurden. Ich sag nicht, früher sei alles besser gewesen, aber solche Texte gab es vor dem Internet nicht.

  3. Rainer Maria schreibt:

    Naja. Ob der Text den Leserinnen soviel bringt, ist die Frage. Ich habe den Mutterwahn-Artikel auch mal angefangen zu lesen und konnte überhaupt nicht verstehen, was der Autor will. Vermutlich sind die Beweggründe für die missglückte Publikation im privaten Bereich zu suchen. «Muttertier» hört sich so respektlos an, als ob der Autor seine Kindheit auf der Weide verbringen musste. Arme Leserinnen sag ich da nur!

  4. Reda El Arbi schreibt:

    Naja,komisch ist, das die Kolumne in der Emma loben erwähnt wurde. Die Frauen da haben offenbar erfasst, um was es ging.

    Aber wenns ums Verständnis eines Textes geht, liegt eben viel beim Leser, und nur ein Teil beim Autor 😀

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