Diese Musik klang anders als alles, was sie bisher gehört hatten, und sie wussten nicht, was sie davon halten sollten. Die sonderbaren Songs, mit denen Brian Wilson die Beach Boys im Herbst 1966 konfrontierte, waren Lichtjahre entfernt von den Hymnen an schnelle Autos und kalifornische Mädchen, mit denen die Gruppe berühmt geworden war.
So begann der Artikel, den ich vor sieben Jahren für die WoZ schrieb. Die sonderbare Musik: damit war das Album «Smile» der Beach Boys gemeint. Monatelang arbeiteten die Beach Boys im Jahr 1967 daran. Doch sie stellten das Album nie fertig. Die vom Beach Boys-Chefkomponisten Brian Wilson und vom genialen Texter Van Dyke Parks ersonnene, arrangierte und eingespielte Musik war zu avanciert für die Beach Boys. Die Band zerbrach fast daran, und Brian Wilson ging es danach jahrzehntelang gesundheitlich schlecht. Wenn das Album fertig geworden wäre, hätte es «Sergeant Pepper» der Beatles, etwas plakativ ausgedrückt, alt aussehen lassen. Eines der grossen «Wenn» der Musikgeschichte.
2004 spielte Brian Wilson alle Stücke des Albums neu ein, mit einer jungen Band. Damals war das eine Sensation. Denn zuvor zirkulierten nur einzelne Stücke und Schnipsel des ambitiösen Projekts. «Smile» fertig zu stellen, war ein Befreiungsschlag für Brian Wilson. Doch ich war nicht ganz glücklich mit der Neueinspielung. Ich schrieb in der WoZ:
Die Rekonstruktion von «Smile» mutet an wie der gegenwärtige Plan, das Berliner Stadtschloss wieder aufzubauen. Die Idee ist bestechend, läuft aber auf den Versuch heraus, die Geschichte auszublenden. Und das ist ärgerlich.
Eigentlich hatte ich diesen Sommer, sieben Jahre nach der Veröffentlichung, Frieden geschlossen mit Brian Wilsons 2004er «Smile». Die Idee, das Opus Magnum endlich fertig zu stellen und in einem Guss herauszugeben, war doch eine gute Idee. Diese Musik ist wesentlich avancierter und fantasievoller und auch schräger, also anregender, als «Sergeant Pepper». Es ist eine der spannendsten Platten der sechziger Jahre. Vielleicht sogar die spannendste.
Doch jetzt haben wir etwas noch besseres als Brian Wilsons Smile: das originale Album, mit den Aufnahmen der Beach Boys aus dem Jahr 1967, ist jetzt endlich da. Während ich diesen Blogtext schreibe, höre ich das sagenumwobene Album zum ersten Mal an. Für Freunde avancierter Popmusik ist das, ich kann es nicht anders sagen, ein grosser Augenblick. Die Platte, die 1967 so heiss erwartet wurde und von der niemand mehr glaubte, dass man sie jemals hören könnte, ist jetzt da. Im November 2011. Good things come to those who wait, heisst es. Auf «Smile» trifft das zu wie auf wenige andere Dinge.
Ich hatte bei Diskussionen im Internet immer die Meinung vertreten, dass Brian Wilson sein «Smile» zu etwa 90 Prozent fertig gestellt hätte. Einzelne veröffentlichte Stücke und Bruchstücke legten diesen Schluss nahe. Jetzt zeigt das endlich veröffentlichte Album: Alle Teile von «Smile» waren fertig eingespielt. Jemand musste nur noch die einzelnen Teile zusammensetzen. Wenn Brian Wilson’s 2004er «Smile» die Referenzversion ist, dann zeigt der Vergleich: Nichts fehlt, alles ist da. Es hätte Brian Wilson nur ein Lächeln gekostet, das Album schon 1967 fertigzustellen. Wenn sich nicht seine Bandkollegen quergelegt hätten, weil ihnen die teilweise leicht schräge, aber umso spannendere Musik und die impressionistischen Texte nicht gefielen.
Doch jetzt ist «Smile» endlich da, und alles ist gut. Beim Hören laufen mir wohlige Schauer den Rücken hinab. Brian Wilsons 2004er «Smile» war toll, aber das jetzt veröffentlichte Original-Smile ist noch toller, denn es ist eben das Original und nicht die Rekonstruktion. Dass ich das noch erleben darf, hätte ich nie zu hoffen gewagt.
Und Brian Wilson’s 2004er «Smile», so sorgfältig es auch aufgenommen wurde, hat jetzt leider nur noch anekdotischen Wert. So wie eine Kopie der Mona Lisa wertlos ist, wenn man das Original anschauen kann.
The Beach Boys: «The Smile Sessions» (Capitol Records)