Jeden Tag stand Paul Valéry um fünf Uhr auf, um die Gedanken, die ihm gerade so in den Sinn kamen, in Notizhefte zu schreiben, bevor er seine Lohnarbeit in Angriff nahm. 1987 brachte der Fischer-Verlag den faszinierenden Inhalt dieser Notizhefte unter dem Titel «Cahiers» in sechs Bänden heraus. Ich kaufte und las damals nur den ersten Band. Die anderen Bände sind leider inzwischen vergriffen.
Umso toller ist es, dass jetzt der Eichborn-Verlag kurz vor der Pleite die «Cahiers» wieder veröffentlicht hat, wenn auch nur als Zusammenfassung in einem Band. Wie die vollständige Ausgabe von 1987 ist auch die Zusammenfassung thematisch gegliedert, die Kapitel heissen «Nachdenken über das Denken», «Ich, Selbst und die Individualität» oder – Valérys Lieblingsthema – «Was kann ein Mensch?»
Am meisten beeindruckt hat mich bei Valéry immer seine Idee, die fast eine Obsession war, die hypothetischen geistigen Möglichkeiten in Bezug zu setzen zu den tatsächlichen Handlungen:
«Ein wirklicher Mensch ist… etwas geringeres als das Wesen, das mittels dieses gegebenen Menschen möglich ist.»
Diese Idee hat etwas Ansteckendes:
«Der Mensch trachtet danach, alles Vermögen, das er in sich spürt, auch anzuwenden… Man sieht es auch am Intellekt, der sich Probleme sucht, die er verschlingen kann.»
Die Suche nach «Problemen, die er verschlingen kann» war für Paul Valéry offenbar das Wichtigste im Leben:
«Jede Dauer, die nicht… vom Gefühl begleitet ist, im Innern eine Beute zu ergattern, und zwar kräftigende Nahrung und nicht nur Kostprobe für meine Neugier, ist für mich verlorene Zeit.»
Beim Schreiben seiner «Cahiers» kamen ihm auch subversive Ideen in den Sinn:
«Die Kinder fragen Warum? Also bringt man sie in die Schule, die sie von diesem Instinkt kuriert und Neugier durch Langeweile besiegt…»
Nicht nur von den Pädagogen, sondern auch vom Wissenschaftsbetrieb grenzte er sich ab:
«Der Philosophiespezialist fängt nichts mit seiner Philosophie an: er ist unter allen derjenige, der am wenigsten von ihr Gebrauch macht.»
Nur selten finden sich in den «Cahiers» politische Bezüge. Doch die folgende Überlegung ist immer noch aktuell, sie liest sich fast wie ein gewitzter Kommentar zur neusten Wahlschlappe der SVP:
«Was die «Konservativen» ruiniert hat, war die schlechte Wahl dessen, was zu konservieren war.»
Fast wie ein kleines kommunistisches Manifest wirkt der folgende Kommentar. Der Unterschied zu den meisten politischen Texten ist, dass der Satz zum ausgiebigen Nachdenken anregt:
«Der Diebstahl kann nur in einer Gesellschaft geächtet sein, in der die Besitzenden herrschen und über ehrbar und ehrlos bestimmen. Ihr Interesse ist es, zu erniedrigen, was ihnen schadet. In einer anderen Gesellschaft, wo es ehrlos wäre, zu besitzen, ist der Räuber ein Gendarm.»
Diesen brilliant formulierten und schwer wiederlegbaren Gedanken haben später auch Hippie-Bands wie Jefferson Airplane aufgenommen, weniger zum Nachdenken anregend, aber dafür kämpferischer: «All your private property is a target for your enemy, and your enemy is we».
Es gibt noch viel mehr Spannendes zu entdecken in den «Cahiers». Keine einfache Kost, das Lesen dieses Buches ist Arbeit, aber sie macht immer wieder, wenn auch nicht immer, enorm Spass.
Paul Valéry: «Ich grase meine Gehirnwiese ab», Eichborn Verlag 2011
Danke für den Tipp! Da wartet eine Fülle von Gedankenfutter auf Entdeckung!